In den Abendstunden und an den Wochenenden, sagte Austerlitz, habe ich damals . . . angefangen, das nahezu achthundert enggedruckte Seiten umfassende Werk zu studieren, das H. G. Adler, der mir unbekannt war bis dahin, über die Einrichtung, Entwicklung und innere Organisation des Ghettos von Theresienstadt zwischen 1945 und 1947 unter den schwierigsten Bedingungen teils in Prag, teils in London verfaßt und bis zu seiner Veröffentlichung in einem deutschen Verlag im Jahr 1955 mehrfach noch überarbeitet hat." Diese Zeilen stammen aus W. G. Sebalds international vielbeachtetem und höchst erfolgreichem Roman Austerlitz (2001), der dem im Zitat erwähnten monumentalen Pionierwerk H. G. Adlers, das bei Nazi-Prozessen als Beweismaterial diente und für das sein Autor mehrfach geehrt wurde, wertvolle Einsichten verdankt.

Sebalds Protagonist Jacques Austerlitz, Dozent an einem Londoner kunsthistorischen Institut, wuchs bei Zieheltern in Wales auf, nachdem er im Sommer 1939 seine Geburtsstadt Prag unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges im Alter von viereinhalb Jahren mit einem der so genannten "Kindertransporte" verlassen hatte, woran ihm die längste Zeit die Erinnerung fehlte. Seine Mutter wurde nach Theresienstadt (Terezín) deportiert, weshalb zu Beginn der 90er-Jahre auch er selbst sich dorthin begibt.

Jedoch kann sich Austerlitz, der weiß, "daß Terezín seit vielen Jahren wieder eine reguläre Kommune ist", vor Ort kein Bild von den Ereignissen in den Kriegsjahren machen, und so beginnt er zu Hause in London, den "von Adler mit solcher Sorgfalt niedergelegten . . . Bericht" - trotz Schwierigkeiten! - eingehendst zu studieren: "Die Lektüre, die mir Zeile für Zeile Einblicke eröffnete in das, was ich mir bei meinem Besuch in der Festungsstadt aus meiner so gut wie vollkommenen Unwissenheit heraus nicht hatte vorstellen können, ging aufgrund meiner mangelhaften Deutschkenntnisse unendlich langsam vonstatten, ja, sagte Austerlitz, ich könnte wohl sagen, sie war für mich beinahe so schwierig wie das Entziffern einer ägyptischen oder babylonischen Keil- oder Zeichenschrift."

Dennoch enträtselt Austerlitz in langen Nächten den Text "bis in die letzten Anmerkungen" Wort für Wort, ja nicht selten Silbe für Silbe, und bereut darüber, dass es "nun zu spät geworden ist, Adler, der bis zu seinem Tod im Sommer 1988 in London gelebt hat, aufzusuchen und mit ihm zu reden über diesen extraterritorialen Ort." Von allen nachgeholt werden kann nun aber die Lektüre von Theresienstadt 1941-1945, und zwar in der Version der überarbeiteten und noch umfangreicheren zweiten Auflage, die ganz offensichtlich auch Austerlitz nicht zur Verfügung stand und die jetzt zum ersten Mal seit 1960 (!) wieder erhältlich ist.

--> Die Entstehungsgeschichte von "Theresienstadt 1941-1945" H. G. Adler, der von Februar 1942 bis Oktober 1944 in Theresienstadt war, arbeitete ab Oktober 1945 im Prager Jüdischen Museum am Aufbau eines Archivs der Verfolgungszeit und des Theresienstädter "Ghettos". Nach der Aberkennung der tschechischen Staatsbürgerschaft wegen seiner deutschen Muttersprache flüchtete er Anfang 1947 nach London, wo er etwa binnen Jahresfrist die erste Fassung seines Theresienstadt-Buches fertig stellte. Bis zum Erscheinen hatte er dann - so Adler - "in fast zehn Nachkriegsjahren keine Mühe gescheut, an Tatsachen und Dokumenten zu sammeln, was die Verhältnisse hinreichend zu beleuchten vermag." Doch damit war noch lange nicht der Schlusspunkt gesetzt: 1958 publizierte er den dokumentarischen Ergänzungsband Die verheimlichte Wahrheit und 1960 die zweite Auflage von Theresienstadt 1941-1945.

Den Plan zu diesem Buch hatte Adler bereits sechs Wochen nach der Ankunft im Lager gefasst, als er sich schwor: "Wenn du das alles überlebst, was du freilich bezweifelst, so wirst du von dem, was du erfahren hast, Zeugnis ablegen, aber durch keinen persönlichen Erlebnisbericht, sondern wissenschaftlich." Lange Zeit verstanden es die Nazis, die Außenwelt in dem Glauben zu wiegen, das etwa 60 Kilometer nördlich von Prag gelegene Terezín sei ein Ort "für Bevorzugte", eine eigene und besondere Gemeinde unter der Leitung eines "Ältestenrats" mit dem "Judenältesten" an der Spitze. Tatsächlich war es aber eine Durchgangsstation, von der die Menschen leichter in die Vernichtungslager weiterdeportiert werden konnten.

Darüber hinaus diente Theresienstadt ab dem Sommer 1944 wiederholt als "Vorzeigelager" für internationale Kommissionen. Das grundsätzlich Andere und Neue an Adlers Theresienstadt 1941-1945 war, dass hier ein ehemaliger Lagerhäftling seine individuellen Erlebnisse völlig beiseite gelassen hatte und eine Monografie vorlegte, die auf umfassendem und genauestem Quellenstudium basierte. "Zusammen handelt es sich um Zehntausende von Archivalien, aber auch andere Dinge, die ich Stück für Stück gesichtet habe", notierte er im Anhang, und in "Warum habe ich mein Buch Theresienstadt 1941-1945 geschrieben?" (1956) fügte er hinzu: "Mein früher Entschluß und die . . . Not der Nachkriegszeit vereinigten sich zu einem mächtigen Antrieb, mein Vorhaben zu realisieren." Wie weit H. G. Adler der Zeit voraus war, illustriert die Tatsache, dass er bereits im Oktober 1947 einem Freund brieflich mitteilen konnte: "Über Theresienstadt bin ich daran, ein sehr ausführliches Buch (Geschichte, Soziologie, Psychologie) zu schreiben, das im Rohbau fast fertig ist. So ein Buch hat noch keiner über ein Lager geschrieben. Es ist streng wissenschaftlich angepackt, auf Grund eines geradezu ungeheuerlichen Dokumentenschatzes, den ich gesammelt habe." Das Buch sollte 1. ein wahres geschichtliches Denkmal, 2. ein getreues Spiegelbild seiner Zeit sowie 3. eine Warnung für die Zukunft sein, und Adler, der seine Pionierleistung selbst schon früh erkannte, war auch noch im hohen Alter von ihrer Beständigkeit überzeugt. "Wer mein Buch, besonders den Apparat, durcharbeitet, gewinnt einen Überblick darüber, wie Nazi-Deutschland regiert worden ist", sagte er 1986 in einem Interview für das ZDF.

Mit Austerlitz hat W. G. Sebald besonders auch ein literaturinteressiertes Publikum auf Adlers Werk hingewiesen, und es muss zusätzlich zur Detailgenauigkeit und zur Objektivität, die Theresienstadt 1941-1945 auszeichnen, unbedingt auch die literarische Gestaltung des Textes hervorgehoben werden. H. G. Adler, der sich ursprünglich auf eine Karriere als Romancier und Lyriker sowie als Sprach- und Literaturwissenschaftler vorbereitet hatte und nur durch die eigenen Lebensumstände zum Historiker und Soziologen wurde, fand für sein Buch einmal die prägnante Charakterisierung: "ein Kafka-Roman mit umgekehrten Vorzeichen, der Wirklichkeit nachgeschrieben." (Franz Hocheneder/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14./15. 1. 2006)