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"Das Team hat sich auf mich konzentriert, ich bin der einzige Kapitän, aber ich habe auch meine eigenen Vorstellungen, den Druck, den ich mir selbst mache. Der ist am größten."

Foto: APA/Breloer
Standard: Kenner sagen, Sie hätten im Jänner selten so einen schlanken, fitten Ullrich gesehen. Stimmt der Eindruck? Ullrich: Es stimmt, dass ich mich sehr wohl fühle, privat wie sportlich. Dass ich gut durch den Winter gekommen bin. Ich kann abends gut einschlafen, aber ich beschäftige mich auch nicht mehr mit den vielen Meinungen über meine Fitness.

STANDARD: Auch nicht mit anderer Kritik, etwa, dass Sie trotz aller Erfolge aus ihrem Talent nicht genug gemacht hätten?
Ullrich: Ich kann mit Kritik umgehen, wenn sie berechtigt ist. Es wird halt dann und wann noch viel dazugehängt, was mit dem Sport wenig zu tun hat. Das ärgert mich dann schon, aber die Haut ist mit den Jahren dick geworden.

STANDARD: Das nennt man dann auch einen Reifeprozess.
Ullrich: Wie beim Wein, so sagt man doch? Ich bin jetzt 32 Jahre alt, aber ich hoffe, dass ich noch keinen Kork habe.

STANDARD: Schließlich wollen Sie in diesem Jahr zum zweiten Mal die Tour de France gewinnen. Sind im T-Mobile-Team die Voraussetzungen dafür gegeben?
Ullrich: Ja, die Anstrengungen, die vielen Gespräche mit dem neuen sportlichen Leiter Olaf Ludwig, mit den Sponsoren haben sich ausgezahlt. Ich habe lange dafür gekämpft, dass mit Rudi Pevenage mein persönlicher Betreuer wieder in der Mannschaft ist. Und wir haben viele Fahrer dazubekommen. Die Mischung stimmt. Wir haben gute Leute für die Rennen im Frühjahr, gute Allrounder, die früh gewinnen können, um die Stimmung hoch zu halten, und wir haben nur noch einen Kapitän. Wir sind ein Team, und nicht viele Teams in einem, wie in den zwei Jahren zuvor. Es gibt keine Eckpunkte, wo man anecken könnte.

STANDARD: Man hat alles auf das Ziel Tour, auf Ihre Person ausgerichtet. Ist dadurch der Druck größer geworden?
Ullrich: Ich glaube nicht, dass der Druck größer werden konnte. Spätestens seit 1997 ist der Druck jedes Jahr da, die Tour zu gewinnen. Ich gehe damit locker um, merke den Druck von außen gar nicht. Das Team hat sich auf mich konzentriert, ich bin der einzige Kapitän, aber ich habe auch meine eigenen Vorstellungen, den Druck, den ich mir selbst mache. Der ist am größten.

STANDARD: Was wurde und wird im Team verändert?
Ullrich: Es geht immer nur um Kleinigkeiten, an denen gefeilt werden muss, wenn man eine Chance auf den Toursieg losgehen will. Man muss vielleicht noch die letzten eineinhalb Prozent rausholen. Ob das jetzt in Form von Teambuilding funktioniert oder bei der Kommunikation untereinander. Wir haben uns auf Englisch als Teamsprache geeinigt, um alle Fahrer, gleich woher sie kommen, besser zu integrieren. Das klingt jetzt einfach, war aber nicht selbstverständlich.

STANDARD: Ist es ein Vorteil für Sie, dass Lance Armstrong aufgehört hat, also nicht auf seinen achten Toursieg in Folge losgehen wird?
Ullrich: Die Tour de France wird deshalb sicher nicht einfacher. Armstrong hat ja, bei aller persönlichen Stärke, auch viel erleichtert, weil er und sein Team alles kontrolliert haben. Ohne ihn wird es wohl unruhiger werden, es wird viel mehr Attacken geben, es wird nicht mehr so sein, dass sich die Favoriten erst auf dem letzten Berg auseinander nehmen, denn ein neuer Armstrong ist ja nicht in Sicht.

STANDARD: Wer kann Ihnen den Toursieg streitig machen?
Ullrich: Da gibt es schon einige. Ivan Basso zum Beispiel, auf den ich am Berg im Gegensatz zu den letzten Jahren keine Zeit mehr verlieren darf. Dann ist da auch Alexander Winokourow, der ja von uns weggegangen ist, um die Chance auf den Toursieg zu haben. Es wird gefährliche Spanier geben, und es wird Leute geben, die in den ersten zehn Tagen überraschend zu Favoriten werden.

STANDARD: Was wird Ihr ehemaliger Helfer Georg Totschnig erreichen können?
Ullrich: Georg wird es noch einmal wissen wollen, nachdem er letztes Jahr diesen herrlichen Erfolg bei der Königsetappe hatte, der völlig zu Recht noch durch die Wahl zum österreichischen Sportler des Jahres belohnt worden ist. Er wird wohl noch einmal auf einen Spitzenplatz in der Gesamtwertung losgehen, da wird es mit einem Tagessieg schwer. Aber den hat er ja schon.

STANDARD: Sie trainieren noch eine Woche mit der Mannschaft auf Mallorca. Wie sieht die weitere Planung aus? Wann steigen Sie mit Rennen in die Saison ein?
Ullrich: Ich lasse mich da nicht gerne festlegen, ich steige mit Rennen ein, wenn ich fit bin. In groben Zügen steht der Plan natürlich. Es gibt einen Weg über den Giro d'Italia und einen über die Tour de Suisse nach Frankreich. Die Mannschaft fährt den Giro ja in jedem Fall, und falls es richtig sein sollte, wird ein Ullrich Platz in dieser Giro-Mannschaft haben.

STANDARD: Die WM findet heuer in Salzburg statt. Mit Ullrich?
Ullrich: Ich kann maximal bis zur Tour im Juli denken, bis dahin ist noch so viel Arbeit zu erledigen. Was danach kommt, muss offen bleiben, ob jetzt Deutschland-Tour oder Weltmeisterschaft. (DER STANDARD, Printausgabe, Montag, 16. Jänner 2006, Sigi Lützow)

ZUR PERSON: Jan Ullrich (32), Vater einer zweijährigen Tochter, war 1993 Weltmeister im Straßenrennen der Rad-Amateure und ist seit 1995 Profi. Der gebürtige Rostocker gewann 1997 die Tour de France. Insgesamt fünfmal beendete er die klassische "Große Schleife" auf dem zweiten, einmal auf dem dritten Platz. Ullrich, der 2002/03 für zwölf Monate wegen Medikamentenmissbrauch (Aufputschmittel) gesperrt war, holte 2000 in Sydney Gold im olympischen Straßenrennen und war 1990 und 2001 Weltmeister im Einzelzeitfahren.