Wien - An einem Junimorgen hat der Akademikersohn Sam seine 44-jährige Mutter erschlagen - in Wien, Innere Stadt, wo drei konfliktreich verbundene Generationen ihre negativen Energien jahrelang unter einem Dach gespeichert und entladen hatten.

Berufskollegen sagen, die Ärztin hatte immer schon Angst vor ihrem unterschwellig bedrohlichen 23-jährigen Sohn Sam gehabt. Freunde und Bekannte der Familie wiederum beschwören, der älteste Sohn hatte unter ständigen Wutausbrüchen und Anfällen seiner hysterischen Mama gelitten. Und der Vater? - Er war in den heiklen Phasen physisch nicht greifbar und hat sich nun auch psychisch davongeschlichen: Der gebürtige Perser behauptet als Zeuge, die iranische Regierung stehe hinter dem Verbrechen.

Bemerkenswert, was die beste Freundin der getöteten Ärztin über diese aussagt: "Sie war von Anfang an überfordert. Ihre Aggressionen, die eigentlich dem Kindesvater gegolten haben, der sie im Stich gelassen hat, hat sie gegen den Sohn gerichtet." Er, der Angeklagte, sei zum Sündenbock erklärt worden: "Es war ihr schon zu viel, dass er die gleiche Luft atmet." Dabei habe er der Mutter "ein Kindermädchen und den Altenbetreuer für den Großvater erspart".

Die Psychiaterin spricht von einer ambivalenten Mutter-Sohn-Beziehung. "Es war eine Art tödliche Umarmung, eine Hassliebe". Der leicht kränkbare, mit Ohnmächtigkeitsgefühlen ausgestattete Sohn habe auf die erlebten Zurückweisungen impulsiv reagiert. "Da genügt ein banaler Anlass, um das Gefäß zum Überkochen zu bringen."

Am Freitag, dem ersten Prozesstag, sprach der Angeklagte wiederholt von der "Unerträglichkeit der Schreie" seiner Mutter. Nun werden die Geschworenen mit einem kurzen Ausschnitt einer Tonbandaufnahme konfrontiert: Elf Tage vor der Tat hatte der 23-Jährige den Ärztenotruf angerufen, weil die Mutter zu Hause einfach nicht zu beruhigen war. "Bitte kommen Sie, meine Mama hat einen Nervenzusammenbruch", flehte der Angeklagte mit dünner, weinerlicher Stimme. Im Hintergrund ist das krächzende Geschrei einer offenbar völlig außer Kontrolle geratenen Frau zu hören. In diesem Fall hatte sich die Mutter über Sams kleinen Bruder so maßlos aufgeregt. "Das ist kein Schreien mehr, das ist ein enthemmtes Brüllen", bemerkt der Anwalt.

Schrei und Defekt
Ähnliche Schreie dürften der Bluttat vorausgegangen sein, die die Psychiaterin als "rauschartig" bezeichnet. Die Ärztin hatte ihren Sohn im Zuge des Wortgefechts angeblich als "genetischen Abfall" bezeichnet, ein Ausdruck, mit dem der Älteste schon Jahre davor von seinem Vater bedacht worden war. Da sei Sam ausgezuckt.

Die Geschworenen sehen darin keinen Mord, sie stimmen mit 6:2 für Totschlag, für eine in einer "allgemein begreiflichen heftigen Gemütsbewegung" verübte Tat. Sam wird zu neun Jahren Haft verurteilt. Zudem wird er auf Rat der Psychiaterin in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. (Daniel Glattauer, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17.1.2006)