Die Formen blieben am Montag gewahrt - schließlich traf man sich in Versailles, wo Angela Merkel und Jacques Chirac den Auftakt zu einer Ausstellung über den Glanz des Königshofes in Dresden im 18. Jh. gaben. Die Gegenwart ist weniger prächtig. Chiracs Atomdrohung gegen "Schurkenstaaten" mitten im Atomstreit mit dem Iran hat in Deutschland scharfe Kritik ausgelöst. Die Opposition forderte Merkel auf, dies Chirac unmissverständlich klar zu machen. Die hinter geschlossenen Türen geführten Gespräche boten der deutschen Kanzlerin erneut Anlass, heikle Einwände anzubringen - etwa den, dass Deutschland nicht vor hat, sich unter den französischen Nuklearschutzschirm zu begeben.

Inhaltlich türmen sich Meinungsdifferenzen über den Rhein hinweg auf, was den Europapolitiker Jean-Louis Bourlanges zur Feststellung veranlasste: "Wir sind noch nicht beim Ehebruch, aber es herrscht bereits Abstinenz." Berlin stört sich nicht nur an der "Atomdrohung", sondern auch am Vorschlag, nach dem französischen und niederländischen Nein zur EU-Verfassung - unbestrittene - Teile davon in Kraft zu setzen.

Die deutsche Seite kann nicht darauf setzen, dass Chiracs Abgang 2007 die Differenzen beseitigt. Der aktuelle Favorit für das Elysée, Innenminister Nicolas Sarkozy, stieß Merkel ebenfalls vor den Kopf, als er ein EU-Direktorium der großen sechs EU-Staaten vorschlug. Merkel versucht, auch auf die kleineren Mitglieder Rücksicht zu nehmen. (DER STANDARD, Printausgabe, 24.01.2006)