Illustration: STANDARD
Manche Künstler begeistern sich für Impressionismus, andere für Postmoderne oder Neokubismus. Erin Crowe hat sich auf Alan Greenspan versteift. Seine berühmte Schildkrötenhaltung, die tiefen Stirnfalten, Cola-Flaschen-dicke Brillengläser. Die Malerin aus Virginia stellt gerade ihre zweite Porträtreihe über den Fed-Chef fertig. Ein Dutzend der monumentalen Ölgemälde sind, obwohl sie 4000 Dollar pro Stück kosten, schon verkauft: "Greenspan ist bekannt wie ein Popidol, viele können sich eine Welt ohne ihn gar nicht vorstellen", so Crowe.

Der Euro und die Europäische Zentralbank waren noch Fantasiegebilde, als Greenspan 1987 das Amt des US-Notenbankchefs übernahm. Keiner seiner Vorgänger hat es so lange ausgehalten. Und keiner hat solch einen Kultstatus erreicht. Um Greenspan ranken sich viele Legenden. Eine besagt, dass er schon mit fünf Jahren dreistellige Beträge im Kopf addieren konnte, eine andere, dass er sich am liebsten im heißem Bad mit den aktuellen Statistiken beschäftigt.

Arbeit am Mythos

Der 79-Jährige hat am eigenen Mythos immer aktiv mitgearbeitet: Er gibt keine Interviews. Den Journalisten und Analysten bleibt keine andere Wahl, als jede Geste des obersten US-Währungshüters zu verfolgen, um wenigstens den Hauch einer Ahnung von dem zu erhaschen, was er vorhat. Manche schwören auf die "Aktologie": Federt Greenspan mit einer dünnen Aktentasche elastisch die Stufen hinauf - gut so, keine Zinserhöhung. Eine fette Aktentasche hingegen droht fette Papiere an, mit der Nachricht, dass das Geld teurer wird.

Unter keinem anderen Notenbankchef ist es den Amerikanern so gut gegangen. In Greenspans Amtszeit fällt die längste Wachstumsperiode der USA ohne nennenswerte Inflation. Er steuerte die weltgrößte Volkswirtschaft erfolgreich durch den Börsencrash von 1987 und durch die Asienkrise. 1998 verhinderte er, dass der Zusammenbruch des Hedgefonds LTCM die Stabilität des Weltfinanzsystems ins Wanken brachte. Beim Zusammenbruch der New Economy schraubte er ab 2001 den Zinssatz bis auf ein Prozent hinunter, so tief wie nie zuvor. Auch nach den Anschlägen vom 11. September reagierte er prompt: Er erklärte sich dazu bereit, den Banken notfalls sogar direkt Staatsanleihen abzukaufen, um die Liquidität zu erhöhen, eine Maßnahme wider jede Regel traditioneller Geldpolitik.

Banker statt Musiker

Eigentlich wollte Greenspan, der nach der Scheidung seiner Eltern bei der Mutter im jüdischen Viertel von Manhattan aufwuchs, Musiker werden. Er studierte an der berühmten Juilliard School und tingelte danach ein Jahr lang als Klarinettist mit der Henry Jerome Band herum. Dabei hat er sich die vielleicht wichtigste Voraussetzung für den späteren Job angeeignet, glaubt sein Biograf Justin Martin: "Sein Genie basiert darauf, dass er nicht nur Daten wälzt, sondern auch blitzschnell improvisieren kann."

Zur Wirtschaft kam der "Maestro", wie ihn viele immer noch nennen, durch den Einfluss der Philosophin Ayn Rand, die ihm die Augen dafür öffnete, dass der Kapitalismus nicht nur effizient und praktisch, sondern auch "das einzige, mit der politischen Freiheit des Individuums vereinbare System ist". Seine Karriere als unabhängiger Finanzberater währte jedoch nicht lange. Bereits 1967 engagierte er sich im Präsidentschaftswahlkampf für Richard Nixon und übernahm danach immer wieder beraterische Aufgaben, bis Ronald Reagan ihn schließlich zum Notenbankchef ernannte.

Regierungen kamen und gingen, wie sie eben gewählt wurden. Greenspan blieb. Er hat vier Präsidenten über sich ausgehalten und unbeirrt seine Finanzpolitik gemacht. Formal für Amerika, de facto für die Welt. Obwohl sein Jahresgehalt, umgerechnet rund 150.000 Euro, geradezu lächerlich ist, gemessen an den Millionengagen der Investmentbroker, schaut die internationale Finanzszene zu ihm auf. Immer, wenn der Zampano eine seiner berühmten Grundsatzreden hielt, konnten die Nachrichtenagenturen melden: "Die Börsen kletterten innerhalb weniger Minuten auf . . ." - oder das Gegenteil, denn richtig verstehen ihn nur die wenigsten.

Klares Missverständnis

Greenspan ist bekannt dafür, dass er sich gern in verbale Rauchschwaden und kryptische Kommentare hüllt. Keiner seiner Sätze, der nicht mindestens zwei Nebensätze zählt. Seine Frau, die TV-Journalistin Andrea Mitchell, behauptet, er habe ihr drei Heiratsanträge gemacht, bevor sie gewusst habe, was er wollte.

Manchem Broker bereitet der komplizierte "Greenspeak" ganz ähnliche Probleme. Der Fed-Chef ist sich dessen bewusst. "Wenn meine Aussagen zu klar waren, müssen Sie mich missverstanden haben", hat er einmal gesagt, wohl wissend vielleicht, dass sich just durch das Wortgewirr nachträglich immer etwas in seinen Texten finden lässt, was als zutreffende Voraussage ausgelegt werden kann. So fand sich 1996, auf dem Höhenflug der Aktienspekulation, seine Warnung vor der "irrationalen Überschwänglichkeit" des Aktienmarkts. Jahre später platzte die Blase. Das "Orakel von Washington" hatte wieder Recht behalten. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.1.2006)