Josef Weidenholzer: "Wenn sich die Trends so weiterentwickeln wie bisher, wird die Frauen- und Altersarmut garantiert steigen."

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derStandard.at: Sie sind Vizepräsident des europäischen Netzwerks "solidar", das die Kampagne "Save our social Europe" initiiert. Wie wollen sie das soziale Europa retten?

Weidenholzer: "solidar" ist ein Dachverband sozialer NGOs europaweit, die seit langem in Bereichen der Sozialpolitik und des Wohlfahrtswesens tätig sind. Wir sind besorgt über die Entwicklungen, die sich auf europäischer Ebene abspielt, wobei die Sorgenklassiker Entwicklungen am Dienstleistungssektor und in der Daseinsvorsorge sind. Unser Wunsch ist es, das Thema "Soziales Europa" stärker ins Bewusstsein zu bringen. Ohne die Betonung der sozialen Dimension könnte das gesamte Projekt "Europa" scheitern.

derStandard.at: Welchen realen Einfluss kann die Zivilgesellschaft auf die europäische Sozialpolitik haben?

Weidenholzer: Einen großen. Beim letzten Frühjahrsgipfel hätte man ohne unsere Proteste und die Proteste der Sozialpartner beinahe den gesamten sozialen Aspekt bei der Zwischenbilanz der Lissabon-Ziele weggelassen. Wir haben einen sehr direkten Zugang zu den Menschen, wissen um Sorgen und Ängste und können mobilisieren und müssen deshalb ernst genommen werden. Ein Beispiel: Die Zivilgesellschaft, von der "solidar" ein wichtiger Teil ist, hat im Vorfeld massiv dazu beigetragen, dass die "Charta der Grundrechte" in die Verträge von Nizza aufgenommen wurde.

derStandard.at: Lassen sich "Wettbewerbsfähigkeit" und soziale Absicherung vereinbaren? Wenn es weltweit Lohndumping, Ausnutzung von Arbeitskräften und Billigproduktion gibt, kann Europa noch wettbewerbsfähig bleiben?

Weidenholzer: Für uns sind das keine Widersprüche. Die Sozialpolitik ist ein Produktivfaktor. Menschen, die mit ihrer Situation zufrieden sind, arbeiten besser und lieber. Es ist ein neoliberales Dogma, dass soziale Standards und Wettbewerbsfähigkeit einander aussschließen. So etwas wird wider besseres Wissen behauptet. Welche Länder sind denn in Europa wirklich wettbewerbsfähig? Die, die hohe Sozialausgaben haben wie die skandinavischen Länder. Hohe Sozialkosten führen nicht zwingend zu Wettbewerbsverzerrung und verschlechtern auch nicht die Position eines Nationalstaates.

derStandard.at: Trotz Sozialstaat leben Millionen EuropäerInnen in Armut. Hängen soziale Leistungen zu sehr an Erwerbstätigkeit? Brauchen wir ein Grundsicherungsmodell?

Weidenholzer: Es ist eine wichtige Voraussetzung, dass die Rahmenbedingungen für Vollbeschäftigung vorhanden sind und zwar für Frauen und Männer gleichermaßen. Zur Erwerbsgesellschaft gibt es natürlich keine wirkliche Alternative, man bräuchte aber sicher einen "unteren Plafond", über Grundsicherungsmodelle muss sicherlich nachgedacht werden. Das ist ein Thema, das gesamteuropäisch diskutiert werden muss, um keine Armutswanderung zu provozieren. Längerfristig braucht Europa Visionen und eine intensive Beschäftigung mit dem Thema.

derStandard.at: Greifen die Ziele der Lissabon-Strategie hier zu kurz?

Weidenholzer: Der Lissabon-Prozess hat einen großen Makel, nämlich dass man die soziale Dimension fast völlig vergessen hat. Ziele wie die Halbierung der Armut wurden nicht annähernd ernst genommen, die nationalen Aktionspläne sind erst gar nicht zum Laufen gekommen. Ein neuer Anlauf in Richtung eines europäischen Sozialmodells ist deshalb nötiger denn je.

derStandard.at: Kann es ein gesamteuropäisches Modell überhaupt geben?

Weidenholzer: Von außen gibt es natürlich eine Kontur, die Europa von anderen unterscheidet. Im Inneren sind die Gegensätze groß und die Frage ist nun, in welche Richtung hin sich das soziale Europa bewegt. Die osteuropäischen Länder gehen ja derzeit eher in eine neoliberale Richtung und bereiten durch Lohndumping anderen Mitgliedsstaaten Probleme. Das halte ich aber für eine Übergangsperiode. Dem Wettbewerb nach unten sind Grenzen gesetzt, die osteuropäischen Länder sind natürlich daran interessiert, unsere Standards zu erreichen. Ich glaube, dass sich das nordeuropäische Modell schon deswegen durchsetzen wird, weil es eine hohe Akzeptanz bei der Bevölkerung gefunden hat.

derStandard.at: Die Erweiterung schadet dem sozialem Europa also nicht?

Weidenholzer: Ich sehe die Erweiterung als große Chance, nicht zuletzt aus politischen Gründen. Über kurz oder lang wird es zu einer Einebnung der Unterschiede zum Beispiel im Lohnniveau kommen. Natürlich ist derzeit die Slowakei noch ein Niedriglohnland, aber das wird nicht dazu führen, dass Wien nach Bratislava auswandert. Was die Dienstleistungsrichtlinie betrifft, ist unsere Position klar: Wir wollen das Herkunftslandprinzip nicht. Und wir wollen, dass der soziale Sektor eindeutig ausgenommen wird, was momentan nicht garantiert ist. Es muss aber in dieser Diskussion immer festgehalten werden, dass Einwanderung ein völlig normaler Vorgang ist.

derStandard.at: Wie schätzen Sie die Situation der Frauen, der MigrantInnen und der älteren ArbeitnehmerInnen ein? Sind sie zwangsläufig die VerliererInnen?

Weidenholzer: Wenn sich die Trends so weiterentwickeln wie bisher, wird die Frauen- und Altersarmut garantiert steigen. Aber gerade in Europa gibt es breite Bewegungen, die gegen diese Entwicklung ankämpfen. Wenn Europa was gebracht hat, dann im Bereich der Gleichberechtigung der Geschlechter. Das sollte auch für MigrantInnen und Ältere möglich sein. Sollte das nicht gelingen, wird es ein vereintes Europa nicht mehr lange geben.

derStandard.at: Kann die Installierung eines langfristig funktionierenden Sozialsystems überhaupt ohne schmerzhafte Einschnitte einhergehen?

Weidenholzer: Es wird immer Notwendigkeiten zum Umbau geben und dafür, andere Gruppen in den Vordergrund zu rücken. Wogegen ich mich allerdings wehre, ist Rhetorik wie "Wir müssen den Gürtel enger schnallen", "Wir haben einen Reformstau", "Wir müssen reformieren". Das dient meist dazu, die Gewichtung zu verschieben. Wir haben leider erlebt, dass auch in Europa die Armen ärmer und die Reichen reicher wurden.