1.
Robert Menasse eröffnet seine Kritik an der Verfassung mit einem unter Anführungszeichen stehenden und daher scheinbar wörtlichen Zitat des Artikels 1 der Bundesverfassung. Dort heißt es freilich nicht, dass "alle Macht" vom Volk ausginge. Sondern: "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus." Für Verfassungsrechtler ist das Fehlzitat schmerzhaft, denn in der Vermeidung der Terminologie von "Macht" oder "Gewalt" kommt die Abwendung vom Verständnis des Staates als eines "Gewaltverhältnisses" und die Auffassung des Staates als Rechtsordnung zum Ausdruck.

Im selben Satz schreibt Menasse, die Verfassung sei im übrigen "die systematische Dekonstruktion von allem, was man eine demokratische Verfassung nennen könnte". Menasse schreibt nicht, was er unter einer "demokratischen Verfassung" versteht, ich war bisher der Ansicht, dass das B-VG Österreich als parlamentarische Demokratie einrichtet (vgl. besonders Art. 24ff).

Es ist zwar einzuräumen, dass jede positive demokratische Verfassung notwendigerweise Elemente der Fiktion und Repräsentation einführen muss. Es ist aber unsinnig zu behaupten, dass Österreich keine demokratische Verfassung habe. Im ständigen Ausspielen einer vermeintlich eigentlichen Demokratie gegen das positive Verfassungsrecht verbündet sich Menasse objektiv mit den Feinden der Demokratie.

Möglicherweise meint er aber ein anderes Problem, nämlich dass die reale staatliche Willensbildung oft nicht im Rahmen jener formalen Verfahren erfolgt, die die Bundesverfassung vorgibt, also etwa nicht im Nationalrat, sondern in anderen gesellschaftlichen Bereichen - was in der Tat ein diskussionswürdiges Thema wäre. Doch darüber schreibt Menasse nicht. Ob die Vorschriften der Bundesverfassung die Demokratie "dekonstruieren", oder ob "hinter" der Verfassung andere Willensbildungsprozesse ablaufen, sind jedenfalls zwei ganz verschiedene Probleme.

2.
Menasse meint weiter, die österreichische Verfassung von 1920 sei "eine Ruine der Verfassung aus der Monarchie" gewesen. Abgesehen davon, dass vieles mit gutem Grund in die Republik übernommen wurde, übersieht der Kritiker eine entscheidende Neuerung der Verfassung von 1920: Die heute als selbstverständlich vorausgesetzte Möglichkeit der Aufhebung auch von Gesetzen wegen Widerspruchs zur Verfassung, war bis dahin noch keineswegs durchgesetzt. Erst die absolut originelle Einrichtung des Verfassungsgerichtshofes vollendete den "Stufenbau der Rechtsordnung" und stellte das Verfassungsrecht an die Spitze der Rechtsordnung.

Es steht ganz außer Zweifel, dass das B-VG von 1920 damit die modernste und ausdifferenzierteste Verfassung war und grundsätzlich auch geblieben ist. In einer ganzen Reihe respektabler Staaten gibt es bis heute keine Verfassungsgerichtsbarkeit (etwa in Schweden und Großbritannien)! Dass es in wesentlichen Punkten - besonders bei der Neukodifikation der Grundrechte - zu keiner Einigung kam, ist nicht der "Verfassung" anzulasten, sondern hat ihre Ursache in den realpolitischen Verhältnissen.

Menasse überschätzt die realen Möglichkeiten des Verfassungsrechts. Besteht kein gesellschaftlicher Konsens über Werte, so kann dieser auch von einer Verfassung nicht herbei deklariert werden, wie eben auch im Falle der "Trennung von Kirche und Staat", wie sie der Schriftsteller als selbstverständlich einfordert.

3.
Menasse behauptet, der Austrofaschismus habe die Verfassung nach ihrer Novellierung von 1929 "heilig gesprochen". Tatsächlich wurde 1929 von bürgerlicher Seite versucht, beträchtliche autoritäre Elemente in die Bundesverfassung hineinzutragen. Dies ist jedoch - erfreulicherweise - nur in bescheidener Weise gelungen.

Von einer Heiligsprechung dieser Verfassung durch den Ständestaat kann keine Rede sein. Im Gegenteil erfolgte die Einführung der ständestaatlichen Verfassung unter Bruch des B-VG und war die Verfassung 1934 eine ganz andere als jene von 1920/29.

4.
Menasse kritisiert weiters, dass die Verfassungsgeschichte der 2. Republik aus einer "Anthologie systematischer Verfassungsbrüche" bestehe, die die "große Koalition deshalb beschlossen habe, damit der Verfassungsgerichtshof diese Gesetze nicht als verfassungswidrig aufheben kann". Dazu ist zunächst einmal zu sagen, dass sich die Verfassungsentwicklung der 2. Republik selbstverständlich keineswegs darin erschöpft hat, defensiv Bestimmungen auf Verfassungsstufe zu erlassen. Dass nach dem B-VG Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen erzeugt werden können, ist unschön und gelegentlich auch bedenklich, wird von Menasse aber in seiner Bedeutung überschätzt.

Vor allem sollte er nicht unkritisch den Ausdruck "Verfassungsbruch" gebrauchen, denn bei der Ausübung verfassungsrechtlicher Zuständigkeiten kann nicht von "Verfassungsbrüchen" gesprochen werden.

5.
Menasse kommt auf den "Verfassungspatriotismus" zu sprechen und bedauert es, dass sich Österreich nach 1945 nicht wie die Bundesrepublik Deutschland eine moderne, klare, demokratische Verfassung gegeben habe. Dazu ist zu sagen, dass der Unterschied zwischen der deutschen und österreichischen Verfassung in einer Gesamtbetrachtung nicht so groß ist. Der markante Unterschied liegt darin, dass das Grundgesetz den Verfassungskern mit einer "Ewigkeitsklausel" ausstattet, wohingegen das B-VG die Entscheidung über seine "Grundprinzipien" letztlich in die Hand einer zwingend durchzuführenden Volksabstimmung legt.

6.
Am Ende dieser Passage widmet sich Menasse noch einem Spezialproblem. Er meint, dass die österreichische Bundesregierung verfassungskonform niemals zurücktreten müsste. Es sei nur eine Tradition, dass sie sich Neuwahlen stelle.

Nun ist die Ausschreibung von Neuwahlen für den Nationalrat keine verfassungsrechtliche Tradition, sondern in Art. 27 Abs. 2 B-VG ausdrücklich angeordnet. Die Bundesregierung habe die Nationalratswahl so anzuordnen, dass der neu gewählte Nationalrat am Tag nach dem Ablauf des vierten Jahres der Gesetzgebungsperiode zusammentreten könne. Wenn die Bundesregierung dieser verfassungsrechtlichen Verpflichtung nicht entspricht, so begeht sie eine rechtswidrige Unterlassung. Tritt aber die Bundesregierung nach erfolgter Neuwahl des Nationalrates nicht zurück, und hat sie das Vertrauen dieses Organs verloren, so kann der Nationalrat mittels des "Misstrauensvotums" (Art. 74 B-VG) jederzeit bewirken, dass die Bundesregierung ihr Amt verliert.

Da in Österreich die gesamte Verwaltung auf Grund der Gesetze erfolgt (Art. 18 Abs. 1 B-VG), und selbst die Möglichkeiten eines der Bundesregierung auf ihrem Weg folgenden Bundespräsidenten, unter Ausnützung des Notverordnungsrechts ohne Nationalrat zu regieren, zeitlich wie sachlich beschränkt sind, könnte sich eine solche Regierung nur vermittels einer Kette von weiteren rechtswidrigen Handlungen und Unterlassungen - und hier ist der Ausdruck "Verfassungsbruch" zutreffend - halten.

Auch hier begegnen wir wieder einer Überschätzung des Verfassungsrechts. Auch ein noch so ausgeklügeltes System der "checks and balances", der Garantien und Kontrollen, kann letztlich die Wirksamkeit einer Verfassung nicht garantieren.

Wenn Robert Menasse also einen österreichischen "Verfassungspatriotismus" fordert, so sollte er nicht gleichzeitig die geltende österreichische Bundesverfassung, die bei allen Mängeln und Schönheitsfehlern eine unverändert hervorragende Staatsgrundlage bildet, gleichsam "krankschreiben".

Auch wenn man Robert Menasse sein dialektisches Denken lässt und ihn damit von der gewiss ermüdenden Verpflichtung zur Widerspruchsfreiheit entbindet, sollte er doch die objektive Wirkung seiner Veröffentlichungen im Auge behalten: Auf den Trümmern der von ihm herbei geschriebenen Verfassungsruine könnten sonst ganz ungeahnte Zweckbauten errichtet werden!

Dr. Clemens Jabloner ist Präsident des Verwaltungsgerichtshofs und Vorsitzender der Historikerkommission.

Die Behauptung, dass die Vorschriften der Bundesverfassung die Demokratie systematisch dekonstruieren, entbehrt jeder Grundlage.