Die Wogen gehen wieder einmal hoch in Straßburg, dem Sitz des Europarats. Parlamentarische Versammlung und Ministerkomitee sind uneinig über die Haltung gegenüber Russland wegen dessen systematischer Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien. Schon 1996 war es rund um die Aufnahme Russlands in den Rat zu heftigen Kontroversen gekommen. Was ist geschehen, und was steht auf dem Spiel?

Am 6. April hatte die Parlamentarierversammlung - auf der Grundlage eines Lokalaugenscheins im Nordkaukasus - dem Ministerkomitee empfohlen, Russland aus dem Europarat auszuschließen, wenn es nicht unverzüglich in Tschetschenien einen Waffenstillstand zu erreichen sucht, alle Menschenrechtsverletzungen einstellt sowie einen politischen Dialog mit Vertretern der tschetschenischen Bevölkerung beginnt - und wenn dabei nicht bis 31. Mai ein "substanzieller, rascher und sichtbarer" Fortschritt erzielt wird. Gleichzeitig wurden der russischen Delegation in der Versammlung die Stimmrechte entzogen und dem Europarat nahegelegt, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Beschwerde gegen Russland zu erheben.

Reaktion des Ministerkomitees auf seiner jüngsten Sitzung am 10. Mai: Obwohl bis dato keinerlei nennenswerte Fortschritte zu verzeichnen sind, wurde Russland mit Samthandschuhen angefasst: Nicht das weiterhin untragbare militärische Vorgehen in Tschetschenien wurde verurteilt, sondern eine Reihe von Ankündigungen Russlands zur Entschärfung der Situation positiv hervorgehoben, wie etwa das Versprechen Putins, dass alle Menschenrechtsverletzungen untersucht werden sollen, und die Zusicherung des Außenministers, dass man eine friedliche (!) Lösung der Krise anstrebe.

Beeindruckt zeigte sich das Ministerkomitee offenbar auch davon, dass ein gemeinsames Seminar über Föderalismus (!) abgehalten wurde und Besuche des Menschenrechtskommissars des Europarats und des Europäischen Anti-Folterkomitees durchgeführt werden konnten (!) - ohne allerdings auf deren Ergebnisse einzugehen.

Diese Art von "Realpolitik" lässt den Europarat in eine veritable Glaubwürdigkeitskrise schlittern, weil seine vorrangigen Ziele und Grundsätze missachtet werden: Als eine seiner wesentlichen Aufgaben ist "Schutz und die Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten" definiert. Jeder Mitgliedsstaat hat gemäß Artikel drei des Statuts des Europarats die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Gewährleistung der Menschenrechte für alle auf seinem Territorium lebenden Menschen anzuerkennen.

Zur Überwachung der Einhaltung dieser Verpflichtung wurde 1950 in Rom die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) unterzeichnet, die heute alle Mitgliedstaaten des Europarates ratifiziert haben.

Probe aufs Exempel

Zusätzlich hat der Europarat mit einer Reihe weiterer menschenrechtlicher Übereinkommen die Latte sukzessive höher gelegt. Die heute gültigen hohen menschenrechtlichen Standards der EMRK konnten sich im Laufe der Zeit nur entwickeln, weil die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die bis 1989 aufgenommen wurden, im Wesentlichen über eine gemeinsame Verfassungs- und Grundrechtstradition verfügen, auf die auch die EMRK aufbaut.

Während man allerdings bei den Reformstaaten Mittel- und Osteuropas noch davon ausgehen konnte, dass diese mit modernen Verfassungen und einem kontinuierlichen politischen Wandel solide Voraussetzungen für eine sukzessive Angleichung an die europäischen demokratischen, rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Standards schaffen, wurde mit der Aufnahme Russlands (und anderer Problemstaaten wie Georgien und Ukraine) diese Grundbedingung leichtfertig konterkariert. Denn weder verfügt Russland derzeit über die genannten, für eine Mitgliedschaft im Europarat unverzichtbaren Standards, noch ist zu erwarten, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird. Mit dem Krieg in Tschetschenien und den - laut glaubwürdigen Berichten - dabei begangenen massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen und Missachtungen des humanitären Rechts, die weder mit Terrorismusbekämpfung noch mit Maßnahmen zum Schutz von Souveränität und Integrität gerechtfertigt werden können, hat Russland die Probe aufs Exempel geliefert.

Zu früh, zu spät

Zu befürchten ist, dass das Ministerkomitee dessen ungeachtet seine kuschelweiche Haltung beibehält, wenn Russland seine Politik in Tschetschenien nur nicht wesentlich verschärft und weiterhin "Zeichen des guten Willens" setzt.

Nun ist schon klar, dass die Entwicklung Russlands von den Mitgliedsstaaten nicht unmittelbar beeinflusst werden kann und dass, selbst wenn Putin den Forderungen des Europarates nachkäme, sich deswegen noch nichts an den grundlegenden menschenrechtlichen Defiziten ändern würde.

Dennoch bin ich der Ansicht, dass die Aufnahme Russlands in den Europarat viel zu früh erfolgte und angesichts der Ereignisse in Tschetschenien und in Anbetracht der ungünstigen Prognosen nun eine Kurskorrektur erforderlich ist: Russland sollte aus dem Europarat ausgeschlossen werden, weil es die "europäischen Werte" offenkundig nicht ernst nimmt. Auf eine Beendigung des Kriegs und die Einhaltung der Menschenrechte kann seitens des Europarates, der EU und der OSZE auch dann gedrungen werden.

Um aber kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Russland gehört zu Europa, historisch, politisch, kulturell, wirtschaftlich und teilweise auch geographisch. Es gehört auch in den Europarat - nur nicht heute. Der Europarat hat mehr denn je auf seine eigentliche Bedeutung zu achten. Es ist schwierig genug, den Angleichungsprozess der Reformstaaten erfolgreich mitzutragen, ohne zugleich Zugeständnisse zu machen, die mühsam errungene menschenrechtliche Standards zu verwässern drohen.

Deren Bewahrung und Ausbau ist umso dringender, als die EU noch um ein eigenes menschenrechtliches Profil ringt und in ihrer Außenpolitik die Einhaltung der Menschenrechte bisher eine nur untergeordnete Rolle spielt.

Noch ist der Europarat die für die Einhaltung und Entwicklung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zentrale europäische Organisation. Mit Russland als Mitgliedstaat aber droht sein Wert - auch für die weitere Integration Europas - zu schwinden.

Für Russland selbst könnte der Ausschluss ein deutliches Signal zu einer Neuorientierung seiner Innen- und Menschenrechtspolitik und damit zugleich Chance einer Neugestaltung seiner europäischen Beziehungen sein.
Ass. Prof. Dr. Hannes Tretter ist Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte in Wien.