Die Arbeitslosigkeit ist im gesamten EU-Raum mit durchschnittlich 10,5 Prozent inakzeptabel hoch, dementsprechend auch die Ausgaben aus nationalen Sozialtöpfen. Die Steigerung der Beschäftigungsquoten reicht nicht aus, um die gesellschaftlichen Spannungen in vielen Regionen des Kontinents, insbesondere die Zuwanderungsproblematik, zu entschärfen.

In ökonomisch gewichtigen Mitgliedstaaten sind die Budgetdefizite aus dem Ruder gelaufen - ebenso die jeweilige Gesamtverschuldung. Arm dran ist die Jugend, die unter Arbeitslosigkeit (Rate: 21,8 Prozent) besonders zu leiden hat. Eine traurige Bestandsaufnahme. Sie stammt aber nicht vom Wochenende, als die Finanz- und Wirtschaftsminister der Union (Ecofin) in Wien gemeinsam mit den Zentralbankern aus Frankfurt die Köpfe zusammensteckten. Nein, das sind Basiswerte aus dem Jahr 1994.

Die Ähnlichkeit zu heute ist verblüffend, die Zahlen fast gleich: So haben derzeit EU-weit 22 Prozent der unter 25-Jährigen keinen Job. Damals wie heute stecken die großen EU-Länder - voran die maßgeblichen Volkswirtschaften von Deutschland, Frankreich, Italien - in der Struktur- und Wachstumskrise.

1995 wurde in Brüssel gehandelt. Die Staats- und Regierungschefs gaben den definitiven Startschuss für den Euro und zur Harmonisierung von Finanz-, Wirtschafts- und Währungspolitik, um die im Maastrichtvertrag von 1992 vereinbarten Ziele wahr werden zu lassen: die Grenzen zwischen den Staaten zu schleifen (damit auch die nationalen Schutzräume) und die Währungen durch gemeinsames Geld zu ersetzen.

Den Bürgern der Union wurde aber nicht nur wachsender Wohlstand, sondern zu ihrer Sicherheit auch noch etwas anderes versprochen: eine bessere Koordinierung der Wirtschafts- wie auch der Sozialpolitik; die deutliche Stärkung der Bildungs- und Wissenschaftsförderung, also der Jugend; wie auch die besondere Hinwendung zu Klein- und Mittelbetrieben (sie sind die eigentlichen Jobmaschinen, nicht die Großkonzerne). Und es sollte - zur Abrundung - die Umwelt nicht zu kurz kommen, bei der Art der Förderung der Landwirtschaft ebenso wie bei der Energiepolitik. So steht es in den geltenden EU-Verträgen von Amsterdam 1997 und derer von Nizza im Jahr 2000.

In besseren - also politisch anspruchsvolleren - Zeiten sprach man folgerichtig vom europäischen Modell, einer Art ökosozialer Marktwirtschaft auf EU-Niveau. Folgt man den Erklärungen, die Finanzminister Karl-Heinz Grasser zehn Jahre später als EU-Präsident in Wien abgegeben hat, könnte man leicht zum Schluss kommen, allein die Marktwirtschaft sei geblieben, während "öko" und "sozial" still entsorgt werden: "Das heutige Treffen ist eine klare Bestätigung, dass Globalisierung uns allen nützt", tönte er, und freute sich über "ein klares Signal für weitere Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung".

Das klingt wie die Selbstkarikatur des Vorsitzenden des mächtigen Gremiums "Ecofin", das eigens erfunden wurde, um eine starke, schlüssige "Wirtschafts- und Finanzpolitik" zu machen - Wachstumsmaßnahmen ebenso eingeschlossen wie Steuerpolitik und Sozialbereich.

Stattdessen rühmt sich auch Grasser seiner nationalen Standortpolitik mittels Steuerwettbewerb. Gleichzeitig beklagt er gemeinsam mit seinesgleichen den da und dort grassierenden "Protektionismus". Nix EU. "Haltet den Dieb!", rufen die politischen Diebe. Kein Wunder, wenn Europas Jugend - siehe Frankreich - beginnt, auf die Barrikaden zu steigen. Sie sieht sich um das Versprechen einer besseren Union geprellt.

Das Signal, welches der EU-Ratsvorsitzende Grasser allein mit seiner Tagungsregie erzeugte, spricht für sich: Beim Ecofin waren dutzende Minister und Notenbanker versammelt (ohne Ausnahme nur Männer!), die mit drei als Gästen geladenen Großkonzernchefs (von VW, Telefónica, Nestlé) über die wirtschaftliche Zukunft Europas parlierten. Sonst noch Fragen? (DER STANDARD, Print, 10.4.2006)