Aus Berichten und Kommentaren des "San Francisco Chronicle", der wichtigsten Tageszeitung der vom "Jahrhundertbeben" heimgesuchten US-Region, in den ersten Tagen nach der Katastrophe:

Gestern um Mitternacht waren alle Brände gelöscht oder unter Kontrolle - mit Ausnahme einiger Straßenzüge am Fuß des Telegraph Hill. Von dort fraßen sich die Flammen südwärts Richtung Docks. Alle Schiffe wurden aus dem Hafen manövriert.

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Alle Eisenbahnlinien befördern auf Anfrage Fahrgäste in jede Stadt innerhalb Kaliforniens. Die Fahrten sind gratis, man muss nur halbwegs glaubwürdig machen können, dass man am Zielort Freunde oder Verwandte hat.

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Die Zahl der Hochzeiten ist in Folge der Katastrophe sprunghaft angestiegen. Frauen, die ihr Heim verloren hatten und mittellos zurückgeblieben waren, baten ihre Verlobten um die Eheschließung - und wurden in er Regel auch umgehend "erhört".

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"Ich lebe nirgendwo", ist vielfach die Antwort, wenn jemand um einen Führerschein oder ein anderes offizielles Dokument ansucht und vom Beamten nach seinem Wohnort gefragt wird, "früher lebte ich in San Francisco".

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Für die Landstreicher, die San Francisco das ganze Jahr über in großer Zahl bevölkerten, war das Erdbeben ein Vorbote besserer Zeiten: Nachdem die allgemeinen Hilfsmaßnahmen für die Notleidenden angelaufen waren, gaben sich die meisten Tramps als Katastrophenopfer aus und führen seither ein viel angenehmeres Leben als vorher.


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In David Belascos jüngstem Broadway-Hit "The Girl from the Golden West" singt Blanche Bates ein Abschiedslied, als sie gemeinsam mit ihrem Liebsten ihr Heim verlässt. Und die letzte Strophe endet mit der Zeile: "Lebe wohl, San Francisco, oh mein Kalifornien, meine Sierra!" Am Abend des Bebens versagte Bates bei dieser Zeile die Stimme, sie sank in die Arme ihres Partners und sah sich trotz aller Überredungsversuche außerstande, weiterzumachen. Der Vorhang fiel. Als sie ihre Betreuer dann in die Garderobe begleiteten, hörte man sie klagen: "Es ist meine Heimat. Das ist doch so, als würde man seine besten Freund verlieren. Oh, ich ertrage es nicht."
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Die Stadt wurde - in mehrfacher Bedeutung des Wortes - auf den Erdboden heruntergeholt. Plünderer zu erschießen erübrigt sich, weil es nichts mehr zu stehlen gibt. Die zerstörten Häuser und devastierten Straßen sind aber gar nicht so entscheidend. Der Sachschaden ist zwar gewaltig, aber nicht jenseits aller Vorstellung. Ein paar hundert Millionen wird man für den Wiederaufbau brauchen, und nicht wenige Leute meinen, dass es die Sache wert ist. Der "Fall", für den sie bereit sind, zu zahlen, ist ein gesellschaftlicher: Wir stehen uns nun alle auf demselben Level gegenüber. Alle künstlichen Barrieren sind weggespült. Das ganze Brimborium aus Stolz, Eitelkeit und Protzerei, das diese Menschen über Jahrzehnte aufgebaut haben, wurde ebenso schnell und endgültig niedergerissen, wie die Flammen ihr Eigentum vernichteten.

Der Verlust an Menschenleben ist gering, der Verlust an gesellschaftlicher Macht enorm.

Jetzt zählt nur noch die Liebe. Das Geld und alles, was man dafür kaufen konnte - Bedienstete, Luxus, Macht -, hat schlagartig keinen Stellenwert mehr, und damit scheinen auch Feindschaft, Hass, Eifersucht und Verachtung plötzlich verschwunden. Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen.

Wir stehen vor einem Neubeginn, jeder, egal ob reich oder arm, fängt noch einmal von vorn an.

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Aus einem im "Chronicle" veröffentlichten Brief eines Mitglieds der "National Guard" an seinen Vater:

Eines Morgens, als ich auf Patrouille war, sah ich eine Gruppe Menschen vor einem Bäcker-Kiosk. Als ich näher ran ging, erkannte ich, dass der Besitzer 50 Cent für einen Laib Brot verlangte. Das war natürlich eine Schweinerei, weil die armen Leute sich das nie leisten konnten. Also hielt ich dem Besitzer meine Pistole vor die Nase und sagte den Leuten, sie sollten sich in einer Reihe anstellen, damit einer nach dem anderen zu seinem Stück Brot kommt. - Und was soll ich dir sagen: nach ein paar Minuten war der Wagen leer und die Menschen waren ziemlich zufrieden mit mir. Natürlich hatte ich nicht die Befugnis für so was, aber was sollte ich tun - der Mann war schließlich drauf und dran, die Leute auszurauben ... (Übersetzung: mj/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18. 4. 2006)