Ian Davidson

Zweifellos hat die Idee der europäischen Integration schon bessere Zeiten erlebt: Als in Frankreich noch Mitterrand und in Deutschland Kohl regierte, wollten diese beiden Länder Seite an Seite den Einigungsprozess gegen den britischen Widerstand regelrecht erzwingen. Heute sind sich die beiden führenden Europa-Staaten im Hinblick auf eine gemeinsame europäische Strategie weniger einig, was zur Folge hat, dass auch ihr Interesse an der europäischen Integration geringer ist.

So will etwa Frankreich - nicht zuletzt mit Blickrichtung auf seine bevorstehende EU-Präsidentschaft - eine Konfrontation mit den Briten tunlichst verhindern, solange nur die kleinste Chance besteht, für die Zukunft einen annehmbaren Kompromiss zu finden.

Das Problem ist nur, dass solche Hintertür-Spielchen nicht funktionieren. Und die Bedeutung der Rede Fischers liegt darin, dass er dies als erster amtierender Minister öffentlich zugegeben hat, auch wenn er vorgeblich nur seine persönliche Sichtweise dargestellt haben will.

"Die Erweiterung der Union", so erklärte er, "wird notwendigerweise eine fundamentale Reform der europäischen Institutionen nach sich ziehen. Wie würde denn das auch aussehen: ein Europäischer Rat mit 30 Staats- und Regierungsvertretern? Wie lange würden die Ratssitzungen dann dauern? Tage, vielleicht sogar Wochen?"

Seine Antwort ist unmissverständlich: Die über die letzten 50 Jahre verfolgte Ausbaumethoden der Integration werden nicht mehr länger praktikabel sein. Eine derart riesige Staatengemeinschaft müsse daher zu einer föderalen Union werden, wenn sie sich auch nach wie vor aus den traditionellen Nationalstaaten zusammensetzt. Die Union müsse mit einer neuen Verfassung ausgestattet werden, die auf den grundlegenden Menschenrechten basiert; die Verteilung zwischen Länder übergreifenden und nationalen Kompetenzen solle klarer definiert und die Demokratie durch ein Zweikammernsystem im Parlament gestärkt werden.

Nun mag dieser Entwurf zwar einige durchaus verdienstvolle Ratschläge enthalten - ihn als "ambitiös" zu beschreiben (Copyright: Frankreichs Außenminister Hubert Védrine) ist aber wohl stark untertrieben. Denn würde man damit Ernst machen, hieße das: Man müsste erstens den europäischen Einigungsvertrag völlig umschreiben; zweitens stünden plötzlich weitreichende Neuverhandlungen über die bestehende EU-Politik auf der Tagesordnung - ein schon in guten Zeiten wahrhaft heroisches Unterfangen, angesichts der Abwehrhaltung einer ganzen Reihe von Mitgliedsstaaten der Union aber so gut wie undurchführbar.

Bedenkt man, dass Fischer seine Föderalismus-Idee noch dazu innerhalb von zehn Jahren verwirklicht sehen will - in einem Zeitrahmen also, in dem die Osterweiterung abgeschlossen sein soll -, wird die Zahl der Gegner bis dahin vermutlich noch um einiges gewachsen sein.

Je unüberwindlicher aber die Hürden für Fischers Konzept, desto nahe liegender könnte folgende Alternative sein: Eine Kerngruppe von gleich gesinnten Staaten prescht ohne die anderen vor, verhandelt einen neuen Vertrag und könnte dann vielleicht sogar eine föderale Regierung bilden.

Und an diesem Punkt zeigt sich, dass das französische und das deutsche Denken doch wieder ziemlich übereinstimmen. Denn kurz vor Fischers Rede ließ der französische Premier Jospin mit einem Vorschlag aufhorchen, wonach die elf Mitglieder der europäischen Währungszone eine Art Wirtschaftsregierung für Europa bilden sollten.

Was lernen wir daraus? Die Zukunft der europäischen Integration wird in den Händen jener Staaten liegen, die dieses Europa wollen, den anderen (allen voran den Briten) soll die Macht genommen werden, es zu blockieren.
Ian Davidson, ehemals langjähriger Kolumnist der "Financial Times", ist Mitglied des Zentrums für Europäische Politik in Brüssel.
Project Syndicate