Pripyat - von Menschenhand seit 20 Jahren unverändert.

Foto: Rotes Kreuz

"Ich wartete gerade mit den Kindern auf den Bus, als es passierte", erzählt Tamara (rechts).

Die Wunden sind 20 Jahre nach dem Super-GAU nicht verheilt, berichtet Rotkreuz-Sprecherin Gabriela Hartig. Das Rote Kreuz hilft bei der medizinischen und psychologischen Bewältigung.

Tamara Krasitskaya zählte zu den Glücklichen, damals in der Sowjetunion. Sie arbeitete gemeinsam mit ihrem Mann Igor in Tschernobyl, dem fortschrittlichsten Kraftwerk des Landes. Sie lebte mit ihrer Familie im benachbarten Pripyat, einer blühenden, modernen Stadt. "Pripyat war wie ein Ferienressort – voller Blumen und Bäume, mit breiten Boulevards, Kulturpalast, Hotel, Hallenbad", schwärmt die zierliche blonde Frau noch heute.

"Explosion färbte den Himmel unnatürlich orange"

Am 26. April 1986 setzte die Explosion des Reaktorblocks 4 Tamaras Glück ein jähes Ende. "Die Explosion färbte den Himmel unnatürlich orange. Ich wartete gerade mit den Kindern auf den Bus, als es passierte", erinnert sie sich. Am nächsten Tag wurde die Vorzeigestadt im Schatten des Reaktors evakuiert. "Bei der spärlichen Information über den Unfall waren wir auf unsere Fantasie angewiesen", erzählt Tamara. Die 47.000 Bewohner sollten für drei Tage ausgesiedelt werden.

Pripyat – im Hintergrund das AKW.
Foto: Rotes Kreuz

Aus den drei Tagen sind 20 Jahre geworden, in denen Tamara ihre halbe Familie verloren hat. Ihr Mann Igor arbeitete in Tschernobyl weiter, bis er 1994 an Krebs starb. Ihr älterer Sohn verdingte sich ebenfalls im Kraftwerk und starb 2005.

Am Gelände des Kraftwerks.
Foto: Rotes Kreuz

Nach Pripyat kehrten seit jenem 27. April 1986 nur die Natur und Besuchergruppen auf der Führung durch das Gelände des Kraftwerks zurück. Bäume haben ihre Wurzeln in den Asphalt der Boulevards gekrallt, sie wachsen auf Balkonen, Dächern und aus Fenstern. Die Zeit scheint stehen geblieben. Verwitterte Plakate hängen in rostigen Ständern. Ein verblichenes Spielzeugauto steht, vermutlich seit Jahren unberührt, in einem Hauseingang. Wäscheklammern schaukeln auf einer Leine im Frühjahrswind. Von Menschenhand seit 20 Jahren unverändert, verfällt die einstige Paradestadt zu einem begehbaren Mahnmal für tausende Tschernobyl-Opfer.

Graue Tristesse

Etwa 180 Kilometer entfernt liegt das Dorf Stavki. Das nasskalte Aprilwetter taucht die geduckten Holzhäuser entlang der Straße in graue Tristesse. Am Ende der Straße steht ein türkises Haus, Risse ziehen sich durch die Wand, das Wellblech des Vordachs baumelt im Wind. Neben dem Eingang hängt ein verblichenes Rotkreuz-Zeichen.

Im zugigen Vorzimmer wartet Swetlana Bogdan auf ihre Untersuchung. Sie war 14, als der Reaktor explodierte, gesehen und gehört hat sie nichts davon. Heute weiß sie, dass ihr Dorf und seine Umgebung zu den am stärksten verstrahlten Landstrichen der Ukraine zählt. Etwa ein Viertel der 1,3 Millionen Einwohner der Region Zhytomir gelten als von der Katastrophe Betroffene.

Swetlana war 14, als der Reaktor explodierte. Ihre Schilddrüse ist vergrößert.
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In Stavki macht an diesem Tag ein mobiles Diagnose-Team des Roten Kreuzes halt, um die Bewohner mit Ultraschallgeräten auf Anomalien an der Schilddrüse zu untersuchen. Auch Swetlanas Schilddrüse ist vergrößert, sie muss zur weiteren Behandlung in das Spital von Zhytomir. Rotkreuz-Arzt Vladimir Sert: "Wir haben heute 69 Personen untersucht, bei 31 macht Knotenbildung eine weitere Behandlung nötig." Schilddrüsenkrebs ist die häufigste Folge der radioaktiven Verseuchung, die Rate in der Ukraine und in Weißrussland ist rund 16 mal höher als gewöhnlich.

Mobile Diagnose-Ambulanzen
Foto: Rotes Kreuz

Die mobilen Diagnose-Ambulanzen sind das Herzstück des "Chernobyl Humanitarian Assistance & Rehabilitation Programme" (CHARP) des Roten Kreuzes. Seit 1997 touren sechs Ambulanzen durch abgeschiedene und entlegene Dörfer der Ukraine, Weißrusslands und Russlands. Knapp 900 Fälle von Schilddrüsenkrebs haben sie seither entdeckt, alleine 221 im Jahr 2005. "Wir rechnen mit den höchsten Raten zwischen 2006 und 2020", sagt Rotkreuz-Arzt Sert. Die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe liegen für tausende Menschen noch in der Zukunft.

Weithin unsichtbar sind auch die psychologischen Auswirkungen des atomaren Super-GAUs. Wir besuchen das Rotkreuz-Kinderheim in der Stadt Korosten, etwa hundert Kilometer westlich von Tschernobyl. Im Garten vor dem niedrigen Haus suggeriert eine bemalte Palme aus Blech und eine bunte Schaukel heile Kindheit.

Tieftraurige Familiengeschichten

Die 20 Kinder im Heim sind Jahre und Jahrzehnte nach der Katastrophe geboren und zählen zu ihren Opfern. Sie stammen aus Familien, die das Atomunglück zerstört hat. Korosten war einst Bahnknotenpunkt und Industriestadt. Die Schließung des Atomkraftwerks hat den Niedergang der Stadt besiegelt. Hohe Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und tieftraurige Familiengeschichten prägen seither den Ort. Den dreijährigen Bogdan brachte die Polizei in das Rotkreuz-Heim, weil die Mutter sich tagelang nicht um ihn kümmerte. Die zweijährige Anna wurde auf der Straße aufgelesen, der zwölfjährige Sergej flüchtete sich vor seinem gewalttätigen Vater in das Kanalsystem.

Anna (vorne) wurde auf der Straße aufgelesen.
Foto: Rotes Kreuz

Im großen Spielzimmer des Heims sind sie zu Geschwistern geworden. Die größeren kümmern sich um die kleineren und allen zusammen gibt eine Psychologin und die liebevolle Betreuung der Rotkreuz-Schwestern Halt. Sie arbeiten darauf hin, die Kinder wieder in ihre Familien zu integrieren. "Manche Familien müssen wir auch finanziell unterstützen, damit sie überhaupt in die Lage kommen, die Kinder wieder aufzunehmen und zu versorgen", erzählt Alexander Bogdan vom Roten Kreuz. Seit seiner Gründung 2002 hat das Heim 300 Kinder aufgenommen, medizinisch und psychologisch versorgt und ihnen wenigstens ein Stück unbeschwerte Kindheit geschenkt.

In Lisna, einem Vorort von Kiew, wohnen 13.000 ehemalige Bewohner von Pripyat.
Foto: Rotes Kreuz

Tamara Krasitskaya hat die Katastrophe in einen Vorort von Kiew verschlagen. In den grauen Plattenbauten von Lisna leben etwa 13.000 ehemalige Bewohner von Pripyat, mehr oder weniger glücklich. Tamaras jüngerer Sohn Wassily zählt zu den Glücklichen. Er hat es geschafft, als Techniker mit einem guten Job.

CHARP – Chernobyl Humanitarian Assistance & Rehabilitation Programme

1990 startet das Internationale Rote Kreuz das grenzüberschreitende Hilfsprogramm für die Tschernobyl-Opfer mit 350 Geigerzählern. "Die Menschen trauten den widersprüchlichen, offiziellen Angaben schon längst nicht mehr", erzählt Programm-Manager Nikolay Nagorny. "Für sie war alleine die Existenz des Programms schon eine unglaubliche Aufwertung ihrer Situation." 1991 nahm das erste mobile Diagnose-Team seine Arbeit auf. Medizinische Untersuchungen, Ernährungsberatung, und die Verteilung von Vitamintabletten standen damals im Vordergrund.

1997 wurde CHARP modifiziert: "Der signifikante Anstieg von Schilddrüsenkrebs, bei dessen Entdeckung und Behandlung eine Heilungschance von 99 Prozent besteht, machte die Änderung notwendig", erklärt Nagorny. Auch psychologische Betreuung wurde aufgenommen.

Bis heute wurden 90.000 Menschen untersucht, 15.000 erhielten psychologische Unterstützung und das Immunsystem von 24.000 Kindern verbesserte sich durch die Vitamintabletten. Zwischen 2006 und 2020 werden die Schilddrüsen-Erkrankungen ihren Höhepunkt erreichen. Das Programm muss also weiter laufen und braucht dringend finanzielle Unterstützung.

Kinderheime in Lugansk und Korosten

Seit drei Jahren betreibt das Rote Kreuz die beiden Kinderheime. Allein in Korosten sind seither 300 Kinder aus desolaten Familien aufgenommen, ausgebildet und betreut worden. Das Österreichische Rote Kreuz unterstützt den Betrieb der Heime mit jährlich 20.000 Euro.

Medizinisch-soziale Zentren

Angesiedelt in den tristen Satellitensiedlungen am Rande der großen Städte wie Kiew, bieten diese Rotkreuz-Stellen teilweise lebenswichtige Nachbarschaftshilfe. 50 bis 80 Menschen täglich suchen zum Beispiel im "Medico-social-Center" im Kiewer Vorort Lisna Unterstützung. Das Spektrum der hilfreichen Rotkreuz-Schwestern reicht von Babynahrung und Kinderkleidung über warmes Essen, einfache medizinische Untersuchungen und Verteilung von Medikamenten bis zu offenen Ohren für die Probleme der Bewohner.