Forschung & Geschlecht
Eugenie Goldstern, vergessen, verdrängt
Brillante Sammlung der Volkskundlerin verstaubt im Depot
Wien - Sie stammt aus Odessa, der Hafenstadt am Schwarzen Meer. Dort wird
Eugenie Goldstern 1884 als jüngstes von 14 Kindern in die Familie eines wohlhabenden
jüdischen Kaufmanns hineingeboren. Jenja, so ihr Rufname, besucht das Gymnasium, ihre
Brüder studieren Medizin und Chemie. Einer von ihnen tut dies in Wien, zwei in der
Schweiz. Jenja spricht fünf Sprachen, die Familie ist aufgeklärt liberal.
Um 1905, im Vorfeld der Revolution, wird die politische Lage in Russland instabil.
Immer wieder kommt es in der Provinz zu Übergriffen, auch gegen Juden. Die Familie
Goldberg bringt sich in Sicherheit nach Wien. Dort arbeitet einer der Brüder inzwischen
als Zahnarzt, ein anderer hat eine Fango-Klinik für Haut- und Nervenkrankheiten eröffnet.
Forschung vor Ort
Eugenie beschließt, Volkskunde zu studieren, darf sich auf Grund ihrer russischen
Staatsbürgerschaft aber nur als Gasthörerin einschreiben. Ihr Interesse gilt besonders
den Menschen am Rande der Zivilisation, und sie beginnt, im Hochgebirge zu forschen.
1912 kommt sie zum ersten Mal ins Schweizer Wallis. Ihre wissenschaftliche Spezialität
werden Kinderspielzeug und Kerbhölzer, sogenannte “Tesseln”. Diese Holzstäbe wurden
benutzt, um über die Pflichten und Leistungen der Gemeindemitglieder Buch zu führen.
An den Kerben von “Werktesseln” etwa ließ sich ablesen, ob jemand seine Arbeit für
die Gemeinde schon geleistet hatte. “Wassertesseln” regelten die Bewässerungsansprüche,
andere die Milch- und Weidewirtschaft. Eugenie Goldstern kann zahlreiche Objekte erwerben
und legt damit den Grundstein für eine noch heute hochinteressante Sammlung.
Bei ihrer Feldforschung ist sich die Tochter aus gutem Hause für nichts zu fein.
Ihr wissenschaftlicher Ansatz ist in der Ethnologie noch heute aktuell: Um das Leben
der Bevölkerung wirklich zu verstehen, wohnt sie sogar mit in einer “Stallwohnung”,
einem gemeinsamen Raum für Mensch und Vieh. Aus dieser Erfahrung in dem kleinen Ort
Bessans entsteht später eine der ersten Dorfmonographien überhaupt.
Völkische Volkskunde
Als der Erste Weltkrieg beginnt, geht die Studentin notgedrungen nach Wien zurück.
Doch hier weht der Wind inzwischen auch in ihrer Disziplin aus völkischer Richtung.
Eugenie versucht es zu ignorieren und geht in die Region Abtenau forschen. Wieder
dokumentiert sie die Lebens- und Arbeitsbedingungen, bis sie nach Kriegsende in die
Schweiz zurückkehren kann. Dort schreibt sie sich an der Universität Fribourg ein,
wo sie 1920 ihre Doktorprüfung “summa cum laude” besteht.
Chancen auf eine wissenschaftliche Laufbahn hat sie als Frau und Jüdin dennoch kaum,
schon gar nicht am Wiener Volkskundemuseum. Geschenke werden allerdings gern entgegen
genommen: “Fräulein Dr. Goldstern” stiftet den Wienern ihre Sammlung zusammen mit
250.000 Kronen, um dem Museum über die Inflation zu helfen. Zum Vergleich: Die sieben
großen Landesmuseen hatten damals ein Gesamtbudget von 400.000 Kronen.
Gründer und erster Direktor des Museums war Michael Haberlandt, wegen seiner Aufgeschlossenheit
einst Goldsterns Vorbild, später aber hemmungsloser Antisemit. 1924 übernimmt sein
Sohn Arthur, ebenfalls vom nationalsozialistischen Rassenwahn durchdrungen, die Direktion
und verbannt die Sammlung Goldstern, eine der umfangreichsten außerhalb Frankreichs,
in kaum zugängliche Räume und ins Depot. Als Paris 1926 im Auftrag des Völkerbunds
eine Ausstellung mit Kongress plant und in Wien wegen Spezialsammlungen anfragt, verschweigt
das Museum die Existenz der wertvollen Goldstern-Stücke.
1933 wird es politisch eng, und Eugenie bemüht sich mit Erfolg um die österreichische
Staatsbürgerschaft. Für eine Anstellung nützt ihr das allerdings nichts - die rassistische
Ideologie verbaut ihr jeden Weg. Im Volkskundemuseum sind vier von fünf Angestellten
Nationalsozialisten, und die Illegalen veranstalten hier Liederabende und Schulungsvorträge
200 pro Jahr.
Nach dem Anschluss machen sich die Nazis auch über die Fangoklinik von Eugenies Bruder
her. Ihr Neffe Alexander wird nach Dachau und Buchenwald deportiert - 1939 kommt er
wieder frei, weil sein Vater das Sanatorium “für den Preis eines Spirituskochers”
zwangsverkaufen musste. Bald darauf begeht Eugenies Schwager Leopold Wermer Selbstmord,
um der Deportation zuvorzukommen. Für Eugenie ist es für eine Flucht zu spät - sie
wird am 14. Juni 1942 nach Izbica in Polen deportiert, wo ihre Biographie endet.
Kurz nach 1945 zeigt das Museum für Volkskunde im Zuge einer Neuaufstellung auch
die Goldstern-Bestände aus Hochsavoyen und würdigt damit ihre Leistung. 1968 findet
im Schlossmuseum Gobelsburg eine Sonderausstellung über französische Volkskunst mit
Teilen der Goldstern-Sammlung statt, 1987 erscheint eine Übersetzung der Monographie
über Bessans, 1988 hebt eine Tagung in Eisenstadt Goldsterns Verdienste hervor. Doch
heute lagern die Exponate, wie der Münchner Kunsthistoriker und Goldstern-Biograph
Albert Ottenbacher, im
Standard-
Gespräch beklagt, “im Luftschutzbunker hinter
dem Schönbornpark”.
Ausstellung 2002?
Auf die Frage des STANDARD, ob es nicht an der Zeit wäre, eine Goldstern-Ausstellung
zu organisieren, gibt sich Museumsdirektor Franz Grieshofer hoffnungsfroh: “Die kommt
sicher. Wir wissen, was wir an Eugenie Goldstern haben. Ihre Sammlung ist heute interessanter
denn je.” Und wann wird es soweit sein? “Vielleicht 2002”.
Das Buch von Albert Ottenbacher: “Eugenie Goldstern. Eine Biographie”
ist im Jänner
im Mandelbaum Verlag Wien erschienen und kostet 218,- Schilling.
Heide Korn