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Foto: APA/Robert Jaeger
"Es beginnt harmlos. Kinder werden schnell müde, manche haben häufig Nasenbluten, bekommen leicht blaue Flecken. Wenn diese eigenartige Schwäche länger dauert, bringt ein Blutbild Gewissheit: Wenn so genannte Blasten unter dem Mikroskop entdeckt werden, steht die Diagnose Leukämie fest. Blutkrebs zählt zu einer der schwersten Erkrankungen im Kindesalter. "Früh diagnostiziert und schnell nach den in den USA und Europa entwickelten Standards behandelt, liegen die Überlebenschancen für Kinder mit Leukämie heute bei 80 Prozent", erklärt Helmut Gadner, Primarius des Sankt Anna Kinderspitals in Wien.

Blasten im Blut zerstören

Die Behandlung erfolgt nach einem fixen Schema, und Medikamenten-Mix, den so genannten Protokollen, bei der sich stationäre Aufenthalte und Pflege zu Hause abwechseln. Die aggressive Chemotherapie soll die Blasten im Blut zerstören, dabei werden auch gesunde Zellen in Mitleidenschaft gezogen: Die Haare fallen aus, Übelkeit quält die Patienten, theoretisch ist jeder Schnupfen für das labile Immunsystem lebensgefährlich. Erst nach durchschnittlich sechs Monaten Intensivbehandlung ist das Ärgste geschafft, nur wer fünf Jahre ohne Rückfall überlebt, hat die Blasten und damit die Leukämie nachhaltig besiegt.

Leukämie nach Tschernobyl

Direkte Strahlung in der Nähe des Reaktors nach dem Unfall war tödlich, die Strahlung zerstört das Knochenmark. Unmittelbar nach dem Reaktorunfall kam es durch die Aufnahme von radioaktivem Jod zu einem Anstieg von Schilddrüsen-Tumoren, die operativ entfernt und meist geheilt werden konnten. Die Frage bis heute besteht darin, inwiefern erhöhte Strahlenbelastung über einen langen Zeitraum und Krebserkrankungen miteinander in Verbindung stehen.

"Es hat Langzeitstudien in der Region gegeben, denen zufolge ist die Zahl der Leukämieerkrankungen im Kindesalter in Weißrussland und der Ukraine nicht höher geworden", berichtet Gadner, und eine im September 2005 von der Weltgesundheitsbehörde publizierte Studie gibt ihm Recht.

Die Statistik

Laut Statistik erkranken zwölf bis 14 von 100.000 Kindern im Alter zwischen null und 15 Jahren pro Jahr - und zwar unabhängig davon, wo sie leben - an einem bösartigen Tumor, ein Drittel davon an Leukämie. Und dass Kinder in westlichen Spitälern aufgrund der besseren medizinischen Versorgung zwischen 70 und 80 Prozent Überlebenschance haben und Kinder in russischen Spitälern damals nur 30 bis 40 Prozent, lag an der mangelhaften Behandlung.

Ausbildung für russische Spitäler

Gadners damalige Idee: er startete ein Ausbildungsprogramm für Ärzte und Pflegepersonal, um hiesige Standards in russischen Spitälern langfristig zu etablieren. Mit der finanziellen Unterstützung der Gigax-Stiftung haben seit 1990 125 Ärzte und mehr als 77 Krankenschwestern aus Osteuropa einen halbjährigen Ausbildungsaufenthalt absolviert. Heute liegen die Überlebenschancen für Kinder mit Leukämie auch in Weißrussland und der Ukraine zwischen 50 und 60 Prozent.

Gezielte Diagnose

Noch gibt es Nachholbedarf. "Wir arbeiten in der Forschung mittlerweile mit molekulartechnischen Methoden, mit denen die Art der Krebszellen und damit auch die Art der Leukämie gleich nach der Diagnose genau bestimmt werden kann", erklärt Gadner, eine noch gezieltere Behandlung ist dadurch möglich. Ferner weiß man, dass gewisse Formen der Leukämie genetisch bedingt sind, doch nicht jede genetische Prädisposition führt zum Ausbruch der Krankheit, es brauche immer einen Auslöser.


Ob das auch die erhöhte Strahlenbelastung gewesen sein kann? "Könnte sein, doch diese Frage ließe sich im Nachhinein niemals systematisch untersuchen, weil es keine Daten darüber gibt", erklärt Gadner. Man hätte dann auch alle Kinder, die Tschernobyl und die Strahlung ohne Erkrankung überlebt haben, eingehend untersuchen müssen. Was Gadner aber mit Sicherheit sagen kann: "Tschernobyl war ein Schock, den viele bis heute nicht bewältigt haben." (Karin Pollack/Medstandard 24.04.2006)