Grafik: Standard/Fatih

Aus der Zunge ziehen Vertreter der Traditionellen Chinesischen Medizin Schlüsse auf den Gesundheitszustand des Patienten. Vor allem der Belag spricht Bände: Er verrät, ob man sich besser mit Körndln und Rohkost oder mit Schweinsstelze und Bier ernähren sollte.

Untersuchung auf chinesisch

"Jetzt sagen Sie einmal schön Aaaaah!" Nach dieser Aufforderung drückt der Hausarzt meist die Zunge mit einem Spatel nieder, um bessere Sicht auf den Hals-Rachen Raum zu haben – und verdeckt sich so den Blick auf aufschlussreiche Symptome: Die Zunge kann eine Fülle von Hinweisen auf den Gesundheitszustand des Patienten geben, vorausgesetzt, man weiß, worauf es ankommt.

Form, Farbe, Beweglichkeit und Belag

Chinesische Ärzte wissen es, weil in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) die Zungendiagnose neben der Pulsdiagnose grundlegender Bestandteil der Anamnese ist. An die 10.000 Zungen sollte man studiert haben, bis man daraus lesen kann wie aus einem offenen Buch. Dann aber öffnet sich dem Kundigen ein dicker Foliant: Aus Form, Farbe, Beweglichkeit und allfälligen Belägen der Zunge zieht ein TCM-Arzt Rückschlüsse auf den Zustand der inneren Organe, kann damit Funktionsstörungen und krankhafte Veränderungen erkennen.

Das Herz liegt auf der Zungenspitze

"Eine rote Zungenspitze deutet auf hohen Blutdruck, das weiß jeder Internist", nennt Andreas Bayer, Rektor der TCM-Privatuniversität in Wien, ein Beispiel, in dem sich Schulmedizin und alternative Heilmethoden einig sind. Dass man das Herz auf der Zungenspitze trägt, weil allen inneren Organen ein Platz auf der Zunge zugeordnet ist (vergleichbar den Fußreflexzonen), würde der Internist freilich so nicht sagen.

Die Niere ist am Zungengrund

Laut der jahrtausendealten Lehre der TCM durchziehen Energiebahnen den Körper (Meridiane), die auch Zunge und Organe miteinander verbinden. "Die Zunge ist daher der Spiegel dessen, was sich im Körper abspielt", erklärt Bayer, wieso die TCM ohne das Diagnoseinstrumentarium der Schulmedizin auskommt. Ein tiefer Blick genügt, schon plaudert die Zunge alles aus: Ein geröteter Zungengrund etwa lässt auf eine Schwäche des Nieren-Yin schließen, was oft zu "sexueller Gier, Onanierzwang und zwanghaften sexuellen Wünschen" führe.

Viel sagend ist auch der Belag der Zunge, wobei in der TCM rund 20 verschiedene Beläge und ihre Bedeutung definiert sind. Für die Selbstdiagnose tut es die Unterscheidung zweier Hauptformen: Ist der Belag weiß oder gelb?

Weißer Zungenbelag

Weißer Belag ist ein Zeichen für zu viel "Kälte und Nässe" im Körper, ein Yin-Überschuss, wie es in der TCM heißt, auf gut Deutsch: Typischerweise hat so ein Mensch einen sitzenden Beruf, neigt zu Übergewicht, fröstelt oft, ist eher träge und glaubt, sich von Rohkost und Körndln ernähren zu müssen, weil er das für gesund hält. Ganz falsch, warnt Andreas Bayer: "Bei Yin-Überschuss braucht man wärmende Speisen wie scharfes Curry, gegrilltes Fleisch. Nichts, was viel Wasser enthält oder in einer Soße schwimmt, keine Milchprodukte, ja keinen Zucker." Die auf individuelle Bedürfnisse zugeschnittene Ernährung ist wesentlicher Bestandteil der Therapie in der Traditionellen Chinesischen Medizin, weil sie eine Fülle von Beschwerden und Krankheiten vor allem auf falsche Ernährung zurückführt.

Gelber Zungenbelag

So folgt auch auf die Beobachtung "gelber Belag" zuerst die Diagnose "Nässe und Hitze", also Yin-Mangel (typisch für Marathonläufer und gestresste Manager) und schließt mit einer Ernährungsberatung. "Yin-Mangel führt zu Vertrocknung, innerem Ausbrennen", erklärt Bayer. "Diesen meist hektischen, nervösen Menschen tut alles gut, was im und am Wasser wächst und lebt oder viel Wasser enthält: Obst und Gemüse, Fisch, Reis, Suppen. Bloß nichts Scharfes, keinen Zucker, keinen Alkohol, der ja nicht zufällig Feuerwasser heißt."

Die westliche Zungendiagnose

Bei älteren Menschen oder Kleinkindern, denen das Gefühl für Durst fehlt, setzt auch die Schulmedizin auf Zungendiagnose: "Ich sehe an der Zunge, ob sie genug trinken", sagt Martina Malus, praktische Ärztin in Wien. "Aber auch Gastritis oder eine Streptokokkenangina geht mit typischem Belag einher." (Susanne Rössler/Medstandard 24.04.2006)