Als Gegner des Beitritts Österreichs zur Europäischen Union könnte man sich angesichts der gegenwärtigen Auseinandersetzungen zur "causa prima" die Hände reiben: Das haben wir ja vorhergesehen . . . Doch so einfach kann man es sich nicht machen.

Der Chor der Gut- und Bösmenschen, der Medienhysteriker und politischen Spiegelfechter ist vielstimmig und dominant. Man muss kühlen Kopf bewahren, um im Labyrinth der Fassaden und Kulissen die politische Realität nicht völlig aus den Augen zu verlieren.

Ein Schlüsselwort zur Wahrnehmung dieser Realität heißt "Veränderung": Europa steht in einem Spannungsfeld kultureller und ökonomischer Disparitäten, die EU sucht am Ende einer historischen Etappe ein neues Integrationsprofil und wird mit den anstehenden Entscheidungen über die innere Struktur der Union, über die Osterweiterung und die damit zusammenhängenden Sicherheits- und Wirtschaftsprobleme ein völlig anderes Gesicht erhalten.

In Österreich wiederum ist ein jahrzehntelanges politisches System stabiler politischer Lager, proportialer Machtverteilung und konsensualer politischer Kultur in Bewegung geraten, Werte und Regelungsmechanismen sind einem raschen Wandlungsprozess unterworfen. Auch führen die durch die Mitgliedschaft in der EU verursachten Handlungszwänge und Souveränitätsverluste zu weitaus mehr sozialen und ökonomischen Brüchen, als sie vor der Abstimmung erwartet bzw. eingestanden wurden.

Labilität und Verunsicherung prägen also die gegenwärtige Diskussion - dazu kommt aber noch ein weiteres Phänomen: Ein offensichtlicher Verlust der Fähigkeit zu politischem Denken hat dazu geführt, dass Österreich und die EU sich ein buntes Narrenkleid aus Scheinproblemen, Pseudoargumenten und Als-ob-Handlungen übergezogen haben und der Streit um die Sanktionen der EU-14 sich immer mehr in die Welt der Zeichen verlagert.

Eine virtuelle Politik hat sich selbstständig gemacht, der Besen des Zauberlehrlings schafft beständig neues Material zur Aufschaukelung des Konflikts herbei, in einem wirren Geflecht aus Selbst-, Fremd- und Medienbildern werden Konfrontationen, Irritationen und politische Popanze aufgebaut.

Und unter der Narrenkappe? Da entpuppt sich die EU, weit entfernt vom lichtvollen Ideal der sog. "Wertegemeinschaft", als simple Interessensgemeinschaft mit hoher innerer Inhomogenität, mangelhaften Regeln, viel Autoritarismus, einem erheblichen Konfliktpotenzial und ziemlicher Ratlosigkeit.

Selbstbewusstsein statt Willfährigkeit

Wünschenswert wäre, dass Brüssel von byzantinistischen Selbstinszenierungen und der Dekretierung von Tugendkatalogen Abstand nimmt und sich in ein System demokratischer Kritik und Akzeptanz unterschiedlicher Positionen einbringt, in dem auch eine breite Diskussion über Grundlagen, Wege und Ziele möglich ist.

Für Österreich gilt in diesem Zusammenhang: Die politischen Verantwortungsträger sollten sich von der Gepflogenheit verabschieden, weihevolle Hymnen auf die EU anzustimmen, stattdessen Fehlentwicklungen mit realistischer Skepsis begegnen, klar und selbstbewusst die Interessen dieses Landes wahrnehmen und den Anschlägen auf Rechte der kleinen EU-Staaten Widerstand entgegensetzen. Hier ist Fantasie gefragt, Intelligenz hat nichts mit Größe zu tun.

Vor allem sollte man tunlichst damit aufhören, einem Medienphänomen den Stellenwert eines genialen Politstrategen zuzuschreiben, "der das Land und Europa vor sich hertreibt", und endlich beginnen, einen politischen Maulhelden nicht an seiner Rhetorik sondern an seinen ziemlich mittelmäßigen politischen Taten zu messen.

Diskutieren statt Diffamieren

Dazu gehört auch eine Differenzierung der Motive der FPÖ-Wähler und -Anhänger, die nicht mit Diffamierungen, sondern nur mit politischer Glaubwürdigkeit für demokratische Grundwerte überzeugt werden können.

Es ist also an der Zeit, den europäischen Karneval zu beenden. Die Sanktionsbefürworter schaden einer europäischen Vereinigung, ihre Maßnahmen haben den gegenteiligen Effekt und stützen eine Koalition, die sie eigentlich ausgrenzen wollen, wozu also Falsches fortsetzen? Ein Land kann nicht über Nacht von einem wertvollen Mitglied der europäischen Gemeinschaft zu einem europäischen Schurken werden, ein Ende der Einäugigkeit ist angesagt, Österreich soll endlich in seiner Ganzheit bewertet werden. Zuzugeben, sich geirrt zu haben und zur Vernunft zurückzukehren, zeugt von politischer Reife.

Die Republik muss sich ihrerseits von der traditionellen Doppelbödigkeit und Halbherzigkeit im Umgang mit ihrer Vergangenheit emanzipieren, das ständige Mitschleppen von Versäumnissen kann kein tragfähiges Fundament für die Zukunft sein.

Zukunftsfähigkeit bedeutet aber auch: In diesem Land muss die öffentliche Diskussion divergierender Meinungen über die EU als Beitrag zur politischen Hygiene erwünscht sein - wozu auch die "Normalität" gehört, dass manche Menschen die EU für überflüssig und den Austritt Österreichs für sinnvoll halten.

Und es muss ein neuer sozialer und politischer Grundkonsens entwickelt werden, in dem es als demokratische Selbstverständlichkeit gilt, Regierungen einfach abzuwählen - die vergangene wie die gegenwärtige.

Gerhard Jagschitz ist Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien und war vor sechs Jahren einer der Wortführer der EU-Beitrittsgegner.