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Am Tag nach der Explosion: Blick in ein devastiertes Künstleratelier mit Porträts ehemaliger Führer der KPdSU

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Für Michail Gorbatschow hat der Unfall rückblickend entscheidender zum Untergang des sowjetischen Totalitarismus beigetragen als die Perestroika.

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Die Reaktor-Unfall als Initialzündung für den Zerfall des Sowjetimperiums: Der letzte Präsident der Sowjetunion erinnert sich an die ersten Tage nach der Katastrophe und verteidigt die damalige SU-Regierung gegen den Vorwurf der "Täuschungs- und Vertuschungspolitik".

Der Reaktorunfall in Tschernobyl, der sich heute zum zwanzigsten Mal jährt, war vielleicht mehr noch als die von mir begonnene Perestroika die wirkliche Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion fünf Jahre später. Tschernobyl stellt einen historischen Wendepunkt dar: Es gab die Zeit vor der Katastrophe, und es gibt die völlig andere Zeit, die danach folgte.

Direkt am Morgen der Explosion im Kernkraftwerk, am 26. April 1986, kam das Politbüro zusammen, um die Lage zu besprechen. Eine Regierungskommission wurde einberufen, die sich mit den Folgen beschäftigen sollte. Die Kommission sollte in der Situation die Kontrolle behalten und sicherstellen, dass ernsthafte Maßnahmen ergriffen würden, insbesondere im Hinblick auf die Gesundheit der Menschen im Katastrophengebiet. Darüber hinaus stellte die Akademie der Wissenschaften eine Gruppe von führenden Experten zusammen, die unverzüglich in die Region von Tschernobyl entsandt wurden.

Dem Politbüro lagen nicht sofort die relevanten und vollständigen Informationen vor, die die Lage nach der Explosion widergespiegelt hätten. Trotzdem herrschte im Politbüro allgemeiner Konsens darüber, dass wir Informationen offen herausgeben sollten, sobald wir welche erhielten – im Geiste der Glasnost-Politik, die damals bereits in der Sowjetunion etabliert war. Daher sind die Behauptungen, das Politbüro habe die Informationen über den Unfall verheimlicht, weit von der Wahrheit entfernt.

Nichts zu verbergen

Ein Grund, warum ich glaube, dass es keine vorsätzliche Täuschung gab, ist, dass die Mitglieder der Regierungskommission, die den Schauplatz direkt nach der Katastrophe besuchten und in Polesje in der Nähe von Tschernobyl übernachteten, alle normales Essen und Wasser zum Abendessen zu sich nahmen und sich ohne Gasmasken bewegten – wie alle anderen, die dort arbeiteten. Hätten die lokalen Behörden oder die Wissenschafter von den wirklichen Auswirkungen der Katastrophe gewusst, wären sie dieses Risiko nie eingegangen.

Tatsächlich kannte niemand die Wahrheit, und deshalb waren all unsere Versuche, vollständige Informationen über das Ausmaß der Katastrophe zu bekommen, vergeblich. Wir glaubten anfänglich, dass die Explosion ihre Hauptwirkung in der Ukraine haben würde, doch war Weißrussland im Nordwesten noch schlimmer betroffen. Später litten auch Polen und Schweden an den Folgen.

Es stimmt natürlich, dass die Welt zuerst durch schwedische Wissenschafter von der Katastrophe in Tschernobyl erfuhr, was den Eindruck erweckte, wir würden etwas verbergen. Doch in Wahrheit hatten wir nichts zu verbergen, da wir einfach eineinhalb Tage lang über keinerlei Informationen verfügten. Erst einige Tage später erfuhren wir, dass das, was passiert war, kein einfacher Unfall war, sondern eine wirkliche nukleare Katastrophe – eine Explosion des vierten Reaktors von Tschernobyl.

System am Ende

Obwohl der erste Bericht über Tschernobyl am 28. April in der Prawda erschien, war die Lage vollkommen unklar. Zum Beispiel wurde sofort nach der Explosion des Reaktors das Feuer mit Wasser gelöscht, was die Situation nur noch verschlimmerte, weil sich die Kernteilchen dadurch in der Atmosphäre ausbreiteten. In der Zwischenzeit leisteten wir Hilfsmaßnahmen für die Menschen im Katastrophengebiet: Sie wurden evakuiert. Über 200 medizinische Organisationen untersuchten die Bevölkerung auf Strahlenvergiftung hin.

Es bestand die große Gefahr, dass der Inhalt des Kernreaktors in den Boden und dann weiter in den Fluss Dnjepr durchsickern würde, was die Einwohner Kiews und anderer Städte an den Ufern gefährdet hätte. Daher fingen wir damit an, die Ufer zu schützen, und begannen mit der kompletten Stilllegung des Kernkraftwerks. Die Ressourcen eines riesigen Landes wurden mobilisiert, um die Verwüstung in Schach zu halten, unter anderem wurden Vorbereitungen für den Sarkophag getroffen, der den vierten Reaktor umhüllen sollte.

Mehr als alles andere hat die Katastrophe von Tschernobyl die Durchsetzung der freien Meinungsäußerung ermöglicht. Das System, wie wir es kannten, konnte nicht mehr weiterexistieren. Es wurde absolut klar, wie wichtig es war, die Glasnost-Politik fortzuführen. Ich selbst fing an, die Zeit gedanklich in die Zeit vor und die Zeit nach Tschernobyl einzuteilen.

Der Preis für die Katastrophe von Tschernobyl war unglaublich hoch, nicht nur in menschlicher Hinsicht, sondern auch wirtschaftlich. Selbst heute belastet das Erbe Tschernobyls die Volkswirtschaften von Russland, der Ukraine und Weißrussland. Einige behaupten sogar, dass der wirtschaftliche Preis für die Sowjetunion so hoch war, dass sie das Wettrüsten einstellte, da wir nicht weiter aufrüsten konnten, während wir für die Aufräumarbeiten in Tschernobyl zahlten.

Lektion gelernt?

Das stimmt nicht. Meine Erklärung vom 15. Januar 1986 ist auf der ganzen Welt bekannt. Ich sprach bereits damals von einer Reduzierung der Waffen, einschließlich der Kernwaffen, und schlug vor, dass im Jahr 2000 kein Land mehr im Besitz von Atomwaffen sein sollte. Ich fühlte eine persönliche, moralische Verantwortung, das Wettrüsten zu beenden.

Doch Tschernobyl hat mir wie kein anderes Ereignis die Augen geöffnet: Es zeigte mir die furchtbaren Folgen der Kernkraft, selbst wenn sie zu nicht militärischen Zwecken genutzt wird. Man konnte sich jetzt viel deutlicher vorstellen, was passieren würde, wenn eine Atombombe explodiert. Nach Expertenmeinung enthält eine SS-18-Rakete hunderte Tschernobyls.

Leider ist das Problem der Kernwaffen heute immer noch gravierend. Länder, die sie besitzen – die Mitglieder des so genannten Nuklearen Clubs -, haben keine Eile, sie loszuwerden. Im Gegenteil, sie verfeinern ihre Arsenale weiter, während Länder ohne Kernwaffen in deren Besitz gelangen wollen, in dem Glauben, dass das Monopol des Nuklearen Clubs eine Gefahr für den Weltfrieden darstelle.

Der zwanzigste Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl erinnert uns daran, dass wir die fürchterliche Lektion, die der Welt 1986 erteilt wurde, nicht vergessen sollten. Wir sollten alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um sämtliche Kernanlagen sicher zu gestalten. Wir sollten auch anfangen, ernsthaft an der Produktion alternativer Energiequellen zu arbeiten. Die Tatsache, dass die führenden Politiker der Welt jetzt immer mehr über diese zwingende Notwendigkeit reden, legt nahe, dass die Lektion von Tschernobyl endlich begriffen wurde. (Project Syndicate; aus dem Englischen von Anke Püttmann DER STANDARD, Printausgabe, 26.4.2006)