Bruno aus Kalabrien lebt in Zelle Nummer drei im dritten Stock und ist der König der Pasta al forno, auch Lasagne genannt. Den Teig macht er selbst. Nudelholz gibt es keines, so rollt er die Pasta mittels Besenstiel hauchdünn aus. In Schichten werden Ragout aus Fleisch und Tomaten, Sauce Béchamel, Prosciutto cotto, Mozzarella und Parmesan in einen verbeulten Bräter gefüllt. Bald wehen verführerische Schwaden die Kunde des nahenden Festmahls durch das Männergefängnis von Fossano. Wir sind im Piemont, auf halbem Weg zwischen Turin und der ligurischen Küste, in einer Gegend, wo das "Mangiar bene", das gute Essen als Weg zu innerer Größe, einst erfunden wurde. Da gelten auch im Gefängnis ganz offenbar eigene Gesetze.
Das ehemalige Kloster liegt mitten in der Stadt. Rund 130 Häftlinge werden in dem antik anmutenden Strafgefangenenhaus verwahrt. Die meisten müssen ein bis zwei Jahre absitzen, wegen Betrugsdelikten, Einbruch, Diebstahl, Drogenbesitz . . . Italiener bilden eine solide Mehrheit, aber es gibt auch viele Ausländer, aus Albanien und Rumänien, aus China, Afrika und Südamerika.
Auf drei Geschossen reihen sich je 15 Zellen an die ehemaligen Klostergänge. In jeder sitzen drei bis sechs Männer ein, bei denkbar spartanischem Dekor: Waschbecken, WC, ein Esstisch. An den Wänden buhlt Padre Pio mit sündig gewordenen Damen um die besten Plätze. Dreimal täglich kommt der Handwagen mit Essen vorbei, wie in anderen Gefängnissen auch. Manche Häftlinge ziehen es jedoch vor, sich ihr eigenes Süppchen zu kochen - und noch weit mehr.
"Bialetti" für Kaffee und Lasagne
Dies ist Italien, deshalb dürfen sie das auch - natürlich nicht offiziell. Doch den Gefangenen ist erlaubt, ihren Kaffee mittels zelleigener "Bialetti" selbst aufzukochen - so viel zum Thema Menschenwürde. Dafür gibt es kleine Gaspatronen mit aufgeschraubtem Brenner, die sich, wie alles im Gefängnis, natürlich zweckentfremden lassen. Wenn man Ciro heißt und aus Neapel kommt, baut man sich damit (und mit zwei Pfannen) eine Art Pizzaofen, der ganz erstaunlich gut funktioniert. Das Gleiche gilt für den Ofen mit Ober- und Unterhitze, den sich Bruno auf abenteuerliche Weise für die Lasagne gebastelt hat.
Mit Arbeiten können die Häftlinge etwas Geld verdienen, das in Rasierschaum, Zeitschriften, Zigaretten investiert werden darf - und in Lebensmittel. Angehörige senden Fresspakete, und wenn abends, nach 19.30 Uhr, die Zellen verschlossen werden, signalisiert der Duft gebratener Zwiebeln auf allen Stockwerken den Start der Häfen-Kocherei.
Hu aus China sitzt in derselben Zelle wie Bruno ein. Er spricht weder Italienisch noch Englisch, die Sprache seiner Küche versteht aber jeder. Seine Gerichte sind beinahe so beliebt wie Brunos Lasagne, und sie geben den Menüs von Fossano internationales Flair. Dasselbe gilt für Ruiz aus Peru und Alvarado aus Ecuador, die Huhn mit Gemüse zubereiten. Das Gemüse schneidet Alvarado mit dem Deckel einer alten Konservendose, weil Messer im Gefängnis verboten sind. Trotzdem sind seine Zwiebeln hauchdünn, die Paprika in gleichförmige Streifen, die Zucchini in makellose Scheiben geschnitten.
Bilder- und Rezeptbuch
Fotograf Davide Dutto und Autor Michele Marziani haben den gastronomischen Alltag in Fossano über ein Jahr lang begleitet. Herausgekommen ist ein berührendes Bilder- und Rezeptbuch (bislang nur auf Italienisch erschienen und in Wien bei "Babette's Books for Cooks" erhältlich), das den Kampf um ein Stück Freiheit im Häfen dokumentiert - nämlich jene, das zu essen, was man sich selbst gekocht hat. "Die Zubereitung der Speisen ist ein abendliches Ritual für die Insassen geworden", sagt Davide Dutto, "nicht nur, dass damit die Zeit vergeht, sie erobern sich auch ein Stück Normalität, ein wenig Kontrolle über ihr Schicksal."
Die Gefängnisleitung toleriert die abendlichen Koch-Sessions in den Zellen, weil die Aggression der Männer damit positiv kanalisiert wird. Statt sich zu prügeln, werden elaborierte Rezepte ausprobiert und gemeinsam verspeist. Ob die Bastel-Öfen jeder EU-Norm spotten, ist dabei nicht so wichtig - schließlich geht es um "la cena", das Abendmahl, und da durfte man in Italien noch nie kleinlich sein.
(Severin Corti/Der Standard/rondo/05/05/2006)