Corinna Milborn ist Chefredakteurin der Menschenrechts­zeitschrift "liga" und als Politik-Redakteurin beim Nachrichtenmagazin "Format". Seit Jahren setzt sie sich mit den Themen Migration, Integration, Globalisierung und Menschenrechte auseinander.

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Für das Buch "Gestürmte Festung Europa" begab sie sich zu den Brennpunkten eben jener "Festung" und berichtet über die Situation jener Menschen, die eigentlich nicht hier sein sollten: In geheime Flüchtlingslager in Marokko und die Slums der "Illegalen" in Spanien, aber auch in das Lager Traiskirchen sowie Schubhaft-Gefängisse in Österreich.

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Offiziell deklariert sich Europa zwar zur Festung, dennoch werden Migranten weiterhin hierher kommen: So lautet das Fazit des Buches "Gestürmte Festung Europa" der österreichischen Journalistin Corinna Milborn. Im derStandard.at-Interview kritisiert Milborn die irrationale, wenn auch nützliche Politik in Europa, zwar offiziell die Schotten dicht zu machen, aber gleichzeitig illegale Einwanderer als Arbeitskräfte zu tolerieren, weil es ohne sie nicht geht. Scharfe Kritik übt Milborn an der Schubhaft in Österreich, die aus ihrer Sicht eine "schwere Verletzung von Grundrechten" ist.

derStandard.at: Was war die prägenste Erfahrung bei den Recherchen zu Ihrem Buch?

Corinna Milborn: Es war insgesamt sehr dramatisch, aber am Dramatischsten war die Lage an EU-Außengrenze in Ceuta. Da wird geschossen, es gibt Tränengasanlagen, da ist dieser sechs Meter hohe Zaun mit Stacheldraht, da gibt es Menschen, die sich beim Runterfallen die Beine gebrochen oder sich die Arme an dem Stacheldraht bis auf die Knochen aufgeschlitzt haben, auf sie wird von der Grenzpolizei geschossen – mit Gummikugeln zwar, aber aus nächster Nähe, das heißt, sie haben schwere Verletzungen. Es gibt Abkommen mit Marokko, damit es die Menschen daran hindert, zu dieser Grenze zu kommen – erst kürzlich haben die Marokkaner 40 Millionen Euro von der EU zu diesem Zweck bekommen.

In Ceuta sieht man, dass Europa alles tut, um die Leute davon abzuhalten ihre zwei Füße auf europäischen Boden zu stellen.

derStandard.at: Sie schreiben auch über Österreich: Wie beurteilen Sie die Situation hier?

Milborn: Die Behandlung von Flüchtlingen in Österreich ist mies. Das sieht man besonders am Beispiel der Schubhaft: Normalerweise ist illegaler Aufenthalt ein Verstoß gegen das Einwanderungsgesetz, also ein Verwaltungsdelikt vergleichbar mit Schwarzfahren oder Fahren mit überhöhter Geschwidigkeit.

In Österreich aber werden diese Menschen ins Gefängnis gesteckt und die Situation in der Schubhaft ist wirklich dramatisch. Der Fall Bakary hat mich eigentlich überhaupt nicht gewundert, denn was ich bei den Besuchen gesehen habe, die ich in den Schubgefängnissen gemacht habe: Die Menschen dort werden extrem respektlos behandelt, das hat mit einem Rechtsstaat nur mehr wenig zu tun.

derStandard.at: Wie wird das in anderen Ländern gehandhabt?

Milborn: In Spanien kommt man in Anhaltezentren. Diese sind zwar auch geschlossen, aber es gibt eine Frist von 40 Tagen und wenn es der Staat innerhalb dieser Frist nicht schafft, die Menschen abzuschieben – weil sie zum Beispiel aus einem kriegsführenden Land kommen - dann sind sie frei. So ist das in vielen Ländern und das ist auch richtig so: Man kann jemanden nicht ewig einsperren, der überhaupt nichts verbrochen hat.

Was hier passiert, ist wirklich eine schwere Verletzung von Grundrechten. In Österreich kann man fast ein Jahr in Schubhaft kommen und in der Praxis kommen die Menschen immer wieder in Schubhaft. Ich habe ein Interview mit einem Afghanen gemacht, der einen negativen Asylbescheid bekommen hat, aber nicht abgeschoben werden kann. Jetzt hat er Aufenthaltsverbot, fällt aus der Grundversorgung raus, darf aber auch nicht arbeiten. Er kann aber auch nicht ausreisen, denn egal wohin er ausreist, er wird immer wieder nach Österreich zurückgeschoben, weil innerhalb der EU das Dublin-Verfahren gilt. Im Grunde kann er sich nur in Luft auflösen.

Hier produziert der Staat einen Illegalen, der in Wirklichkeit keine Möglichkeit hat zu überleben. Das ist sowas von menschenverachtend!

derStandard.at: Vertreter einer restriktiven AusländerInnenpolitik sagen immer, es gebe Grenzen der Aufnahmefähigkeit in Europa, man könne nicht alle aufnehmen ...

Milborn: Diese Aussage ist falsch, Europa braucht ganz dringend Einwanderung. In der Praxis aber wird die Einwanderung illegalisiert und es werden die Grenzen hochgezogen.

Gleichzeitig werden die illegalen Einwanderer toleriert: In der Gegend von Almeria in Spanien wird vor allem Gemüse angebaut. Hier arbeiten 80.000 Landarbeiter, keiner von ihnen ist Spanier und 40.000 davon sind Illegale, also ohne Papiere. Sie sind aber nicht zu übersehen, sie leben dort in riesengroßen Siedlungen aus selbst gebauten Hütten, verdienen verdammt wenig und haben absolut keine Rechte.

Dort sieht man es so richtig gut, aber das gibt es bei uns genauso: Ich schätze mehr als 50 Prozent der gastronomischen Betriebe – und das ist tief gegriffen – beschäftigen irgendjemanden schwarz und da wird auch zugeschaut.

Das ist ein ganz interessanter Mechanismus: Es werden Arbeitsplätze ausgelagert, die Produktion wandert in Billiglohnländer, zum Beispiel in der Textilindustrie. Wo diese Auslagerung aber nicht möglich ist, nämlich in den Dienstleistungsbranchen, kommen Menschen aus Billiglohnländern nach Europa und arbeiten hier zu den gleichen Bedingungen wie in ihren Ländern, zu Löhnen von 20 Euro am Tag, wenn es gut geht. Sie sind völlig ausbeutbar, denn sie haben keine Rechte. Das hat schon System das Ganze.

derStandard.at: Dennoch toleriert man, dass so viele Menschen illegal nach Europa kommen und hier arbeiten. Was ist der Grund dafür?

Milborn: Es ist schwer zu erklären, weil es komplett irrational ist. Alle Papiere, die es gibt – auch von der EU-Kommission, die da emotionsloser dran gehen kann, weil sie nicht gewählt wird – zeigen ganz klar, dass Europa Zuwanderung braucht, sie empfehlen Legalisierung und eine geregelte Einwanderung.

Aber es scheint einfach politisch wahnsinnig praktisch zu sein, diese Gruppe als Sündenbock zu haben. Löhne? Ausländer sind schuld. Arbeitslosigkeit? Ausländer sind schuld. Soziale Probleme? Ausländer sind schuld. Scheitern beim PISA-Test? Ausländer sind schuld. Hier kommt auch der Politik eine große Verantwortung zu – quer durch Europa.

derStandard.at: Warum fällt es den europäischen Politikern eigentlich so schwer sich einzugestehen, dass die Menschen gebraucht werden und man ihre Situation legalisieren sollte?

Milborn: Mir kommt vor, Europa versteht sich immer noch als weißes, christliches, abgeschlossenes Gebilde, wo höchstens einmal jemand kommt, weil man ihn braucht, aber dann wieder geht. Es wird verkannt, dass in Europa über 50 Millionen Menschen leben, die nicht hier geboren sind. Das ist ein großer, großer Teil der Gesellschaft, ohne den es überhaupt nicht gehen würde.

derStandard.at: In Ihrem Buch kritisieren sie die Vermischung von Migrations- und Antiterrorpolitik – beide Themen wurden ja anlässlich des EU-Gipfels vergangene Woche besprochen. Lässt sich dieser Zusammenhang so einfach von der Hand weisen, selbst wenn Terroristen, wie Sie in Ihrem Buch schreiben, nicht mit den illegalen Einwanderern über die Grenzen kommen?

Milborn: Ich denke, es gibt einen Zusammenhang, nur andersrum. Das US-State-Department hat dies vor einem Monat sehr klar ausgesprochen: Europa schafft Extremisten, indem es eine ganze Bevölkerungsgruppe, nämlich die Muslime, pauschal zu Terroristen abstempelt und sie ausgrenzt.

Die fehlende Integration der Muslime in Europa – in den meisten Ländern sind sie die zweitgrößte Religionsgruppe – führt dazu, dass sich die Menschen abwenden. Man man sich nur anschauen, wer die Anschläge begeht: Wer waren die Drahtzieher des 11. September? Das waren Menschen, die in Europa studiert haben. Wer hat die Londoner Bomben geworfen? Das waren Europäer. Wer hat van Gogh umgebracht? Das war ein Europäer.

Darum muss man sich kümmern: Wie kommt es dazu, dass Leute, die hier geboren sind und in zweiter oder dritter Generation hier leben, so einen Hass aufbauen? Da muss man ansetzen, das wäre Terrorbekämpfung.

derStandard.at: Könnte die Verleihung der Staatsbürgerschaft die Situation verbessern?

Milborn: Ich glaube, das ist etwas ganz, ganz Grundlegendes. Wir leben in einem Staat, wo die Staatsbürgerschaft darüber entscheidet, ob man überhaupt Bürgerrechte hat.

Wenn man nun von den Migranten verlangt, dass sie sich anpassen, so ist der einzige Anhaltspunkt dafür die europäischen Werte. Wenn man diese zusammenfasst, dann sind das genau drei: Freiheit, Gerechtigkeit und gesellschaftliche Solidarität – oder Brüderlichkeit, wie es während der Revolution hieß.

Jetzt verlangt man aber von Menschen sich anzupassen, gesteht ihnen aber genau diese drei Werte nicht zu: Freiheit nicht, denn Du kannst ausgewiesen werden, wenn Du plötzlich zu wenig verdienst oder wenn Dein Mann zu wenig verdient. Gleichheit? Du hast nicht die gleichen Rechte. Nicht einmal im Betrieb kannst Du mitbestimmen, und schon gar nicht bei Wahlen. Solidarität? Es wird diskutiert, ob arbeitslose Ausländer ausgewiesen werden sollen.

derStandard.at: Ein Kapitel in Ihrem Buch heißt "Frauen zwischen den Welten", was gerade im Umgang mit Muslimen ein sehr heikles Thema zu sein scheint. Wie weit darf man da überhaupt gehen und was muss man im Namen der Kultur tolerieren?

Milborn: Ich glaube, als Staat darf man im Namen der Kultur überhaupt nichts tolerieren. Es ist furchtbar rassistisch zu sagen "Na gut, die kommt aus einer anderen Kultur und da mischen wir uns besser nicht ein."

Probleme treten ja nicht auf, wenn alles glatt läuft, sondern nur dann, wenn es Spannungen gibt, wenn also eine junge Frau nicht von ihren Eltern verheiratet werden will. Diese Frauen müssen gleich viel wert sein wie jede andere Frau in der Gesellschaft. Ansonsten ist das Ergebnis, dass Menschen unterschiedlich behandelt werden, wenn nämlich bei einem Mädchen, das genital verstümmelt wird, gesagt wird: "Oh, wie barbarisch, aber da mischen wir uns nicht ein". Wenn das einem weißen Mädchen passieren würde, würde es einen Aufschrei geben.

derStandard.at: Nun wird aber argumentiert, man habe sich in der Vergangenheit zu wenig um Integration gekümmert, deshalb müsse man die Schotten dicht machen und dafür sorgen, dass die Leute integriert werden...

Milborn: Ja, ich sehe es nicht! Wo sind die Integrationsprogramme, wo hat jemand begonnen? Wo steht das, was Integration bedeutet? Was ist mit den Antidiskriminierungsgesetzen, wo werden die durchgesetzt?

Was ist mit sozialen Programmen, was ist mit Menschen, die aus ihren Gruppen aussteigen, wie zum Beispiel wenn eine Frau flieht? Die hat kein Auffangnetz in Österreich, die wird abgeschoben. Wenn Du als Frau von einem Zuwanderer geschlagen wirst und aus der gemeinsamen Wohnung fliehst, dann kriegst du nach dem Gewaltschutzgesetz zwar ein Aufenthaltsrecht, aber du kriegst keine Arbeitsgenehmigung, du kriegst keine Hilfe, du kriegst keine Wohnungsbeihilfe. Wo ist die Integration, wo sind da die Werte?

Ich habe das Gefühl, es wird viel geredet, aber es hat sich in der Politik noch nicht niedergeschlagen und wenn dann auf eine Art, die repressiv wirkt. Zum Beispiel finde ich Sprachkurse wahnsinnig wichtig. Es ist eine Grundbedingung, dass man eine Sprache spricht, mit der man sich verständigen kann, das ist auch eine Grundbedingung für Teilhabe und insofern sind verpflichtende Sprachkurse etwas Positives.

Aber so wie sie bei uns jetzt durchgeführt werden, ist es problematisch: Es gibt zu wenige, sie sind zu teuer und noch dazu werden sie mit der Drohung verknüpft "Wenn du das nicht machst, dann wirst du abgeschoben." So wird sich die Lage sicher nicht verbessern.

derStandard.at: Sie warnen in Ihrem Buch davor, dass die Situation schon explosiv sei. Was könnte sie zum Explodieren bringen?

Milborn: Ich glaube, wir werden in nächster Zeit immer mehr kleine Explosionen sehen wie in Frankreich. Ich glaube, diese Explosionen finden auch schon die ganze Zeit statt, aber dadurch dass sie in Ghettos stattfinden, kriegt man es nicht mit, so lange nicht etwas brennt.

Das ist aber sehr gefährlich, weil die Menschen ja wahrgenommen werden wollen. Das ist mir gerade in Frankreich aufgefallen: Du kriegst dort nur Aufmerksamkeit für Deine Probleme, wenn Du tausend Autos abfackelst, denn hundert sind schon normal. Das noch weiter auf die Spitze zu treiben, ist wirklich gefährlich.

In Österreich ist es sicher sehr viel einfacher als in Frankreich oder Großbritannien, paradoxerweise wegen des Gastarbeitermodells: Österreich hat nie etwas versprochen, deswegen wird auch weniger eingefordert. Aber die zweite Generation von Muslimen in Österreich ist auch verdammt ausgeschlossen. Die Situation ist sicher besser als in anderen Ländern, aber da ist auch Sprengstoff drinnen.