Es ist schon ziemlich seltsam, dass unser avanciertes Medienzeitalter am vollendetsten von einem 80-jährigen Pensionär verkörpert wird. Er hat es immerhin vermocht, die fernsehfernste Kunstgattung, die Literatur, in ein beliebtes Bildschirmspektakel zu verwandeln. Marcel Reich-Ranicki gehört deswegen zu den Pionieren eines postmodernen Kulturverständnisses, das er in allen seinen sonstigen Erscheinungsformen strikt bekämpft.

Denn man kann nicht behaupten, dass er generell einen experimentierfreudigen Geschmack hätte. Sein Siegeszug im Fernsehen begann, als dieses sich vom kultivierten Teil des Publikums verabschiedete. Die Quotenkonkurrenz mit den Privatsendern erzeugt in allen Programmen einen Sog zum Niedrigen und Gemeinen, sodass die Schaffung einer Literatursendung per se ein begrüßenswerter Akt des Widerstands ist.

So hat sich Reich-Ranicki um die TV-Kultur durchaus verdient gemacht, nur nicht um die Literatur, die ihm angeblich am Herzen liegt. Welche Schere sich hier öffnet, konnte man, bevor das "Literarische Quartett" auch nur als Gedanke existierte, zehn Jahre lang in Klagenfurt beobachten. Der Juryvorsitzende des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbes war eine eigentümliche Erscheinung: Während der Lesungen saß er zusammengesunken am Tisch, doch selbst in dieser passiven Position blieb alle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet.

Kritik als Show

Wenn er dann das Wort ergriff, ging die Show erst los; Reich-Ranicki spielte alle an die Wand: die Schriftsteller, denen gegenüber er als Richter auftrat, ebenso wie die Juroren, die er in der Rolle des Oberlehrers zurechtwies. Bereits zu jener Zeit trug er eine so enthemmte Lust des Urteilens zur Schau, dass sich mancher Beobachter fragte, ob Reich-Ranicki mit seinem unbezweifelbaren Schauspielertalent und seinem enormen Lektürewissen vielleicht nur eine Komödie aufführte.

Die Frage kann inzwischen als beantwortet gelten: Reich-Ranicki spielt nicht den Reich-Ranicki der Nation; er ist es. Er ist genau der Jahrmarktschreier des deutschsprachigen Literaturbetriebs, als der er im Fernsehen erscheint. Bloß dass er es beim "Literarischen Quartett" nicht mehr mit zaghaften Anfängern und Anwärtern auf einen Preis zu tun hat, sondern mit arrivierten Schriftstellern, Dichtern und Kritikern.

Die letztere Berufsbezeichnung bedarf der Erläuterung. In Klagenfurt übte Reich-Ranicki die öffentliche Performance einer neuen Form von Literaturkritik, als deren glänzendster Vertreter er heute gelten darf. Es ist die Kritik aus dem Affekt. Das heißt: Es ist nur ausformulierter Affekt. Denn der Kern aller Kritik, der in der Kunst der Interpretation eines fremden Werks liegt, ist dem Kritiker Reich-Ranicki herzlich egal. Ihm geht es erklärtermaßen um handliche Bewertungen.

So verstand er schon immer seinen Job als Zeitungsschreiber, doch erst beim Fernsehen entsprach dieses Verständnis genau dem Wesen und den Möglichkeiten des Mediums selbst. Der Erfolg der Sendung, die zur wichtigsten Auflagen- und Berühmtheitssteigerungsinstanz des deutschsprachigen Literaturbetriebs geworden ist, spiegelt freilich auch das für unsere Kultur charakteristische Verhältnis zum autoritären Charakter wider. In Frankreich, wo ein Journalist namens Bernard Pivot vor über 20 Jahren die erste literarische Diskussionssendung des Fernsehens überhaupt aus der Taufe hob, würde Reich-Ranickis tyrannische Attitüde nicht einmal Amüsement hervorrufen - geschweige denn Begeisterung.

Der wesentliche Unterschied zu der legendären französischen Sendereihe "Apostrophes" liegt darin, dass dort Autoren eingeladen wurden, während das "Literarische Quartett" nur aus Rezensenten besteht. Reich-Ranicki hat es durch sein Redetalent und seine Marktmacht geschafft, diesen deutschen Hang zur Rezension in die Höhen kunstwerkgleicher Autonomie zu treiben. Dies ist das eigentliche Verhängnis, das er über die Literatur brachte: dass selbstgefällige Befindlichkeitserklärungen, wenn sie nur laut genug vorgetragen werden, als Kritik firmieren.

Burkhard Müller-Ullrich, Kulturpublizist, lebt in Köln.