Am ersten Tag der Unabhängigkeit strahlt die Sonne über Montenegro. Bis zu 30 Grad sollen es werden. Nach der turbulenten Nacht beendet die Hitze die Siegesfeier der "Sezessionisten" auf den Straßen der Hauptstadt Podgorica. Und der slowakische Diplomat Frantisek Lipka setzt einen Punkt unter alle Spekulationen über das Ergebnis des Plebiszits.

Laut dem vorläufigen Endergebnis hätten 55,4 Prozent der an der Abstimmung teilnehmenden Bürger Montenegros für die Unabhängigkeit gestimmt, verkündet der von der EU entsandte Vorsitzende der Referendumskommission. Die Wahlbeteiligung liege bei 86,3 Prozent, Beschwerden über den Referendumsablauf habe es keine gegeben. Das Staatsfernsehen überträgt die Pressekonferenz live.

Jubel in Rot

Schon nach den ersten inoffiziellen Hochrechnungen gehen Sonntagnacht in Podgorica Anhänger der Unabhängigkeit auf die Straße. Tausende Menschen versammeln sich jubelnd vor dem Regierungssitz. Unzählige rote Fahnen mit dem doppelköpfigen goldenen Adler, rote T-Shirts und Mützen beherrschen das Bild. Rot ist das Symbol der Souveränität. Feuerwerk und Freudenschüsse krachen in der Nacht. Waffenbesitz gehört zur Tradition. "Eviva Montenegro" schreit die Masse begeistert und singt die alte montenegrinische Staatshymne. Eine Frau weint vor Freude. Polizisten können die euphorischen und glücklichen Menschen nur mit Mühe daran hindern, in das Regierungsgebäude einzudringen.

Serbischer Saft

Drinnen ist es ebenso laut und chaotisch. Man umarmt und küsst sich dreimal auf die Wange und gratuliert sich zur Unabhängigkeit und Trennung von Serbien. Dabei werden hier, in einer staatlichen Institution, serbische Fruchtsäfte serviert. Die landwirtschaftliche Produktion in Montenegro ist dürftig, die gebirgige Adria-Republik auf Import angewiesen.

Doch in dieser historischen Stunde spricht niemand über die Überlebensfähigkeit des Zwergstaates. Bis in die frühen Morgenstunden war das Referendum eine Zitterpartie. Von 56,3 Prozent fielen die Stimmen für die Unabhängigkeit mit fortschreitender Auszählung auf nur 55,1 Prozent. Erst um zwei Uhr morgens war der Sieg sicher, und Regierungschef Milo Djukanovic trat, frenetisch begrüßt, vor die Menge.

Es gebe keine Verlierer, niemand dürfe sich bedroht fühlen im unabhängigen Montenegro, auch diejenigen nicht, die für das Fortbestehen der Staatengemeinschaft mit Serbien gestimmt hätten, sagt mit staatstragender Miene der Mann, der seit mehr als fünfzehn Jahren die politische Szene dominiert. Der Premier wirkt ernst und gestresst. Er bringt kaum ein Lächeln über die Lippen. Zurückhaltend nippt er an an dem Sektglas, das ihm gereicht wird.

Den wichtigsten politischen Kampf seines Lebens hat Djukanovic zwar gewonnen, doch er ist sich auch in der Siegesnacht sehr wohl der enormen Probleme bewusst, mit denen sich seine Regierung in einer wirtschaftlich und sozial angespannten Lage auseinandersetzen muss, sobald der Jubel verklungen ist. Schon im Herbst finden Parlamentswahlen statt, die europäischen Integrationsprozesse müssen vorangetrieben und Verträge mit internationalen Institutionen unterzeichnet werden. Vor allem ist aber eine rasche Einigung mit Belgrad über die Auflösung der Staatengemeinschaft notwendig, um potenzielle Unruhen in Montenegro zu vermeiden. Immerhin haben rund 45 Prozent für die Union mit Serbien votiert.

Quer durch Familien

Im Lager der Unionisten herrscht Untergangsstimmung. Für viele ist das Ergebnis des Plebiszits nicht nur eine politische Niederlage, sondern eine wahrhaftige Tragödie. Die leidenschaftliche Spaltung in der Bevölkerung geht selbst durch Familien. "Vater schoss auf Sohn, weil dieser für die Unabhängigkeit stimmen wollte", steht in Tageszeitungen.

"Mein Bruder will nicht mehr mit mir reden, mein Vater nie mehr nach Montenegro kommen", sagt der 40-jährige Zoran, dessen Familie in Serbien lebt, und kann die Tränen nicht zurückhalten. Sie seien jetzt Ausländer, meint er schluchzend. Man könne nur hoffen, dass Podgorica und Belgrad die Trennung in einem freundschaftlichen Ton über die Bühne bringen und so die erhitzten Gemüter beruhigen. (DER STANDARD, Printausgabe, 23.5.2006)