Es wird spekuliert, dass die Siebenmillionenstadt kurz vor einem Giftgasanschlag stand - doch bewiesen ist nichts. Ganz im Gegenteil, es häufen sich die Zweifel.
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Was auffällt, ist eine Hülle aus Plastik, groß wie ein Haus, ein Rechteck aus Planen, wie Bauarbeiter sie aufspannen, um sich vor Regen zu schützen. Allerdings wird nicht gemauert in der Lansdown Road 46 in Forest Gate. Die Vorhänge sollen neugierige Blicke abhalten. Antiterrorspezialisten suchen nach Spuren.

Normalerweise ist dies hier tiefstes "Suburbia", eine stille Reihenhausstraße in einem dieser unzähligen Vororte, die für London viel typischer sind als Big Ben. Viktorianisches Backsteinidyll mit bauchigen Erkern. Doch seit Freitag herrscht ein nicht erklärter Ausnahmezustand, ist halb Forest Gate, die Satellitenstadt im Osten, Sperrgebiet. Folgt man Scotland Yard, dann war die Nummer 46 eine Bombenfabrik - könnte es zumindest gewesen sein.

Blau-weiße Bänder, überall Mannschaftswagen, Anwohner müssen auf topfbehelmte Bobbys warten, damit diese sie geleiten. Ohne Eskorte kommt nicht mal die Müllabfuhr rein. Einen Antiterroreinsatz solcher Größe hat London lange nicht mehr erlebt, zumindest nicht seit dem 7. Juli 2005, als vier verheerende Rucksackbomben hochgingen.

Becky Sander schaut dem merkwürdigen Treiben irritiert zu. "Eine Bombe? Klar, auf die leichte Schulter nehm ich das nicht. Aber wo sind die Beweise? Vielleicht ist das alles auch nur ein Irrtum."

Schüsse am Freitag

Aus allem, was sie hört, im Radio, von Nachbarn, kann sich die Krankenschwester keinen Reim machen. Fest steht nur, dass zwei Verdächtige in U-Haft sitzen. Und dass geschossen wurde, am Freitag um 3.58 Uhr. Glas splitterte, sechs Bobbys mit kugelsicheren Westen stürmten das Haus. An die 250 Beamte, unter ihnen Chemiewaffenexperten, standen ringsum bereit. Kurz darauf wurden Mohammed Abdul Kahar (23) und Abul Koyair (20) abgeführt, beide mit Wurzeln in Bangladesch, beides fromme Muslime. Kahar blutete.

Der Rest verschwimmt im Nebel widersprüchlicher Informationen. Umstritten ist, wie Kahar verletzt wurde. Nach einer Rangelei, der Schuss habe sich zufällig gelöst, lautet eine Version. Ein Uniformierter habe sofort direkt gezielt, geht eine zweite. Von einer chemischen Bombenfabrik ist die Rede, von einer mysteriösen Weste, die sich Kahar oder Koyair oder ein Dritter anziehen wollte, um Gift freizusetzen. Man spekuliert, dass London kurz vor einem neuen Anschlag stand, in der U-Bahn oder in einem der tausenden Lokale, die für die Fußball-WM rüsten. Bewiesen ist nichts.

Alles ist möglich, sagt Scotland Yard. Man gehe kein Risiko ein, nicht seit dem 7. Juli. "Wir haben nicht immer Zeit, Hinweise bis zu dem Grad zu erhärten, an dem man keine Zweifel mehr hat. Manchmal muss man schnell handeln, auf Nummer sicher gehen." (DER STANDARD, Printausgabe, 6.6.2006)