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Foto: Corbis
Norbert war zwölf, dick und konnte nicht rechnen. Seine Mutter brachte ihn zu mir und sagte, sie sei verzweifelt, sie selbst kriege nichts mehr in ihn hinein, und wenn nicht ein Wunder passiere, werde er dieses Jahr tatsächlich durchfallen. Norbert saß zur Seite gewendet da, schaute gegen die Decke und sagte, es sei alles klar, er werde mit Beschluss der Klassenkonferenz aufsteigen, trotz eines Nicht genügends, und seine Mutter antwortete, da irre er sich gewaltig, das sei bereits im Vorjahr der Fall gewesen, öfter als einmal gehe es nicht, wie oft sie ihm das noch sagen solle.

"Und es geht doch!"

"Keine Spur geht es!"

"Und wie es geht!"

"Ich sage dir, dass es nicht geht!"

"Mein Vater sagt, dass es geht!",

sagte Norbert.

"Du hast gar keinen Vater!",

antwortete seine Mutter.

Manchmal gerät man sogar in der Mathematiknachhilfe in die Nähe von Sozialberatung oder Psychotherapie, da muss man aufpassen. Am besten lässt man sich an solchen Punkten auf nichts ein und tut, wofür man zuständig ist. "Was kommt raus, wenn du zwei negative Zahlen miteinander multiplizierst?", fragte ich. "Woher soll ich das wissen?", sagte Norbert. Er saß weiterhin zur Seite gedreht da. Ich bemerkte, dass er die Augen geschlossen hatte. Die Mutter kramte nach ihrer Geldbörse und blieb still.

Rationale Zahlen

In die zweite Stunde kam Norbert allein. Er setzte sich an den Tisch und packte seine Sachen aus, Notizblock, Stifte, Geodreieck. Das ist oft so: Kaum sind die Eltern weg, benehmen sich die Kinder völlig normal. Wir begannen mit dem Kapitel "rationale Zahlen", und ich erkannte bald, dass der Knabe nicht die leiseste Ahnung hatte, weder von der Arbeit mit dem Zahlenstrahl noch von Brüchen, schon gar nicht von periodischen Dezimalzahlen. Ich fragte ihn, ob er das Hausübungsheft dabei habe. Er behauptete, nein. Ich sagte, er mache wohl keine Hausübungen, und er schwieg eine Weile. "Mein Vater braucht keine Dezimalzahlen", sagte er schließlich. "Warum braucht dein Vater keine Dezimalzahlen?", fragte ich, und er sagte: "Weil er Boxer ist."

Boxer-Mathematik

Als Boxer brauche man die Zahlen bis neun, sonst nichts, denn bei neun sei es praktisch immer vorbei, dann winke der Ringrichter ab, "zehn" werde gar nicht mehr ausgesprochen. Außerdem habe man als Boxer den Vorteil, dass man jedem, der einem blöd komme, eine in die Fresse hauen dürfe. Ich fragte ihn, ob er sich mit den Gewichtsklassen auskenne, und er sagte, mit dem Mittelgewicht schon, denn sein Vater kämpfe im Mittelgewicht. Er bestreite demnächst einen Kampf um die Staatsmeisterschaft, und was dann folge, könne man sich ausrechnen. Ja, sagte ich, das könne man sich ausrechnen, außerdem, dass die Sache mit uns beiden ganz offensichtlich wenig Sinn habe, aber das solle er vorerst für sich behalten.

Tags darauf rief Norberts Mutter an, um mir zu berichten, ihr Sohn habe angekündigt, nicht mehr in die Schule zu gehen, da das Ganze ohnehin keinen Sinn habe. Nachdem Aufmunterung und Bestechung nichts geholfen hätten, habe sie es mit einer Art Erpressung versucht und ihm gesagt, in unserem Land herrsche Schulpflicht und Eltern, die ihre Kinder nicht in die Schule schickten, kämen vor Gericht und würden bestraft. Norbert habe sie daraufhin angestrahlt und gesagt, er verspreche, dass er sie jede Woche im Gefängnis besuchen werde. Sie sei verzweifelt, ich solle doch um Gottes willen was tun. Ich versuchte es mit Zinsrechnungen.

Kein Dieb

Norbert hörte mir eine Zeit lang zu, - Konto, Sparbuch, Geld ausborgen, das Übliche halt -, dann sagte er, das alles sei völlig überflüssig, denn sein Vater habe fürs Geld eigens jemanden angestellt, das sei bei Profiboxern so üblich. "Außerdem ist das nicht alles", sagte er und legte mir sein Hausübungsheft hin. "Was ist nicht alles?", fragte ich, und er sagte: "Boxer ist nicht alles." Sein Vater sei daneben auch ein international gesuchter Computerspielspion, und als solcher verdiene er in Wahrheit noch viel mehr als mit dem Boxen, nämlich so viel, dass Zinsen oder Zinseszinsen vollkommen egal seien. Ich fragte, was ein Computerspielspion sei, und er sagte, jemand, der zum Beispiel aus "World of Warcraft" ein volles Level ausspioniert, die Figuren und die Dungeons, die Grafik und das ganze Programm, und alles nimmt und abzweigt, anderswohin. "Ein Dieb", sagte ich. Er blieb ganz ruhig und gab zur Antwort: "Mein Vater ist kein Dieb."

Ich sagte nichts mehr und schlug ein wenig schuldbewusst das Heft auf. Es befanden sich genau drei Hausübungen drin, eine mit Textgleichungen, eine mit Proportionen, Strahlensatz und so fort, und eine mit Dreiecksaufgaben, jeweils fein säuberlich Angabe, Rechengang und doppelt unterstrichen das Ergebnis. Ausspioniert und abgezweigt, dachte ich und hielt den Mund.

Der Höchste

In der ersten Stunde nach den Pfingstferien erschien Norbert nicht. Ich malte mir aus, seine Mutter habe ihn zur Adoption freigegeben oder in eins dieser amerikanischen Sondererziehungscamps gesteckt. Ende, dachte ich, aus, das war's dann. Zwei Tage später war er wieder da. Er hatte seine Schulsachen zu Hause gelassen und trug lediglich eine große Packpapierrolle bei sich. Während er sie langsam öffnete, sagte er zuerst: "Minus mal minus gibt plus, so ist es!", dann, er sei auf etwas Wichtiges gestoßen. Anfangs habe er nämlich gedacht, sein Vater sei außer Boxer und Computerspielspion noch Waffenhändler und verkaufe die gefährlichsten und teuersten Atomraketen und Neutronenbomben, doch dann sei er draufgekommen, dass das nicht stimme. "Er gehört zu denen da", sagte er und wies auf das Papier, "er ist der Höchste."

Der Bogen, der jetzt den halben Tisch bedeckte, war gefüllt mit mehreren Reihen kindlich wirkender Figuren, - Köpfe, Rümpfe, Arme, dicht an dicht, alle gleich, alle mit schwarzem Buntstift gezeichnet, nur die Umrisse, keine Kleidung, keine Gesichter. "Wer ist das?", fragte ich. "Ich weiß nicht", sagte er, "es sind zweiundneunzig. Jedi-Ritter vielleicht oder ein Geheimbund."

Streng und heftig

"Warum zweiundneunzig?", fragte ich, und das war mehr eine Art Übersprungsreaktion, denn in Wahrheit dachte ich nicht an die Zahl, sondern einerseits an die Dinge, die man immer wieder über kindliche Zeichnungen liest: verschlüsselte Ankündigungen von Selbstmorden und Schulmassakern und dergleichen, und andererseits war da mit einem Mal ein Bild aus meiner eigenen Kindheit aufgetaucht. Ich bin fünf oder sechs Jahre alt. Mein Vater steht in der Küche und redet über Politik. Ich sitze mit meiner Mutter und meinen Schwestern da und höre ihm zu. Mein Vater spricht mit jener Strenge und Heftigkeit, mit der er gelegentlich auch über andere Dinge spricht, über Verschwendungssucht zum Beispiel oder über falsche Freunde. Er klopft mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte, nennt die Namen verschiedener Politiker und sagt immer wieder "die Roten" und "die Schwarzen". In mir entsteht die Vorstellung zweier riesiger Armeen von Spielfiguren, die eine in Rot, die andere in Schwarz, und ich weiß plötzlich, dass so Politiker sind, glatt, einfach geformt, mit gesichtslosen, kleinen Köpfen.

Norbert hörte mir genau zu. Er schien erst ein wenig verwirrt, dann legte sich langsam ein Ausdruck von Zufriedenheit in sein Gesicht. "Genau, von denen ist er der Höchste", sagte er, "von all den Roten und Schwarzen und von den Präsidenten und Ministern und Bundeskanzlern." Er tappte dabei mit der flachen Hand auf die gezeichneten Figuren, einmal, zweimal, dreimal, und schließlich begann er zu lachen, wild und hell, wie es gar nicht zu seiner Gestalt passte. (DER STANDARD Printausgabe, 10./11.06.2006)