Holocaust-Forscher Raul Hilberg: "Ich glaube, Ahmady-Nejad kennt sich in Geschichte nicht aus."

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STANDARD: Herr Hilberg, weiß man heute so gut wie alles über den Holocaust?

Hilberg: So gut wie 20 Prozent. Hierzulande und natürlich in Deutschland ist der Fortschritt schon größer, aber wenn man nach Tschechien geht, weiß man noch fast gar nichts. Die Akten sind noch nicht zugänglich. Wir wissen überhaupt nicht sehr viel über den Osten. Zweitens wissen wir nicht sehr viel über manche Organisationen - die Organisation Todt (Zwangsarbeit, Anm.) reichte von den Kanalinseln bis zum Süden der Ukraine. Und über das Leben der jüdischen Gemeinden wissen wir sehr wenig. Es wurde nicht so geforscht, weil man bestimmte Dinge - dass die Armen zuerst starben und dann erst die Wohlhabenden - nicht so genau wissen wollte. Und was ist vor allem mit diesen vielen, vielen Zuschauern?

STANDARD: Man weiß immer noch nicht genau, was genau die Menschen hier gewusst, geahnt haben.

Hilberg: Man müsste die Privataufzeichnungen direkt den Nachkommen abkaufen. Aber man kann noch forschen: Wer erhielt das jüdische Gut, das versteigert wurde? Ich rede nicht von Kunstwerken, die hat man seit jeher gestohlen, sondern auch von Radioapparaten usw.

STANDARD: Das heißt, die Vergangenheit wird nicht vergehen?

Hilberg: Sie wird nicht vergehen, es gibt immer neue junge Forscher.

STANDARD: Ein Thema der Wiesenthal-Tagung war sein Memorandum an die Regierung vor 40 Jahren, dass Österreicher überproportional in den Holocaust verwickelt waren.

Hilberg: Die guten Posten in der Verwaltung waren ja schon besetzt. Das meiste, was man den Ostmärkern an Posten geben konnte, waren diese "Kolonien": Niederlande. Serbien. Galizien. Der Goebbels hat die Österreicher bewundert, wie schnell und musterhaft sie das in den Niederlanden gemacht haben. Und dann war natürlich Polizei und SS. Jedenfalls findet man in Eichmanns Apparat ziemlich viele Österreicher. Im Heer, im Osten, sieht man sie in Kommandaturen, wo sie mit der Zivilbevölkerungen zu tun hatten. Ich würde nicht sagen, überrepräsentiert, weil niemand hat sie noch gezählt. Aber sie sind über ganz Europa zerstreut und bilden ein Netzwerk. Wiesenthal war ja in Polen als Zwangsarbeiter. Und wo er war, waren Österreicher. Er konnte daraus schließen, dass sie überrepräsentiert waren.

STANDARD: Soll man David Irving wegen Holocaustleugnung einsperren?

Hilberg: Ehrlich gesagt nein, er ist ein Hochstapler.

STANDARD: Ja, als Historiker. Aber er liefert den Holocaustleugnern Legitimation. Soll man Holocaustleugnung überhaupt unter Strafandrohung stellen?

Hilberg: Meiner Ansicht nach nicht. Ich bin die Freiheit auch dieser Leute. Man kann sogar von ihnen lernen. Sie sagen wie die Kinder: Beweis' das. Und wir müssen es beweisen.

STANDARD: Das andere Seite ist, dass die Holocaustleugnung dann doch Teil des öffentlichen Bewusstseins wird.

Hilberg: Ich verstehe dieses Argument: Der Alkoholiker darf keinen Tropfen mehr trinken. Ich weiß, dass gewisse Gefahren bestehen, aber es hat mir zum Beispiel nichts ausgemacht, dass ich auf der ersten Seite der "Deutschen National- und Soldatenzeitung" als Vertreter der Auschwitz-Lüge genannt wurde.

STANDARD: Was sagen Sie zum iranischen Präsidenten Ahmadi-Nejad, der den Holocaust leugnet und sagt, die Juden sollen nach Europa zurückgehen.

Hilberg: Auch ein Blödsinn.

STANDARD: Nicht mehr?

Hilberg: Das hatten schon die Araber vor langer Zeit gesagt. Die Araber sagten, es wurden Juden ermordet, aber dann kamen sie zu uns und machen mit uns dasselbe. Mit den Iranern ist das natürlich verrückt, weil es gab dort keine Juden mehr. Ich glaube, Ahmadi-Nejad kennt sich in Geschichte nicht aus. Das ist manchmal schon gefährlich. Man muss alles ernst nehmen, muss es beobachten, aber nicht überschätzen.

STANDARD: Glauben Sie, dass es den Antisemitismus immer geben wird?

Hilberg: Das ist eine Ideologie des 19. Jahrhunderts. Varianten werden immer noch erscheinen, aber die Ideologie als solche war schon bankrott. Man muss natürlich auf alles aufpassen, sie können doch Kernwaffen herstellen, man kann sich nie isolieren, das haben wir schon gelernt in Amerika. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10. - 11. 6. 2006)