Endlich ist sie da, die WM; noch nie war die Zeit der Verkündigung so intensiv, noch nie erlebten wir die Erlösung durch den Anpfiff so innig wie am 9.Juni: Es war, als würde alles mit Blick auf diesen einen Termin seinen Sinn bekommen.

Von einer Milliarde Zuschauer vor den Fernsehgeräten weltweit für das Eröffnungsspiel sprach die Kronen Zeitung, von eineinhalb Milliarden Heute. Seit der Bawag-Affäre nehmen wir es in dieser Größenordnung nicht mehr so genau; doch seien wir getreu im Kleinen: "Exakt 2487 Videokameras werden heute München überwachen", lesen wir wieder in Heute, das seine Titelseite mit einem apokalyptischen Unterton ausstattete: "Totale WM-Bierkrise: Die Flaschen fehlen!"Jubel- und Endzeitstimmung werden gerne medial unter ein Joch gespannt, und ohne Katastrophenangst würde sich das richtige Prickeln nicht einstellen. Da dürfen die professionellen Weltdeuter nicht fehlen, und alles, was der Rede mächtig war, wurde vor das Mikrophon gezerrt, um mit stupender Inkontinenz zur WM Stellung zu nehmen.

Bei solchen Standard-Situationen darf Peter Sloterdijk immer aufs Feld laufen, und seine Freistöße kommen präzise an: Er traf im Spiegelals Soziologe, Anthropologe und Philosoph gleich mehrmals ins Schwarze und erklärte: "Ich habe auf dem zweiten Bildungsweg einen passablen Bezug zum Fußball gefunden."Das "Wunder von Bern"wurde beschworen, man sah in Fernsehreportagen die Helden von einst als gealterte elf Apostel.

"Mythen reduzieren komplexe Botschaften auf einfache Codes,"las man im Zusammenhang damit im Spiegel; endlich war Fußball philosophiewürdig geworden, der Spiegelhat es begriffen und gleich einen Supersager geliefert. In Ö1 wurde man um drei vor sieben bei "Gedanken zum Tag"mit Worten zum Phänomen Religion und Fußball geweckt und gleich dreimal mit dem Begriff "existenziell"ausgestattet. Es schien, als würden die Intellektuellen aller Chargen aufatmen, da sie wie ihr Publikum solcher Themen wie Unbefleckte Empfängnis, Freier Wille, Dialektik oder Ödipus-Komplex schon längst überdrüssig geworden seien. Fußball empfiehlt sich als das Deutungsmodell des Lebens, das Literatur, Philosophie und die angeschlossenen Disziplinen mit einem unvergleichlichen Anschauungspotenzial versieht.

Und wo bleiben die Sportexperten? Wollen sie sich nicht zur Abwechslung der Domänen der Intellektuellen annehmen? Warten wir vergebens darauf, dass uns Heinz Prüller über das Zweite Vaticanum aufklärt und Herbert Prohaska den "Mann ohne Eigenschaften"erläutert? (DER STANDARD, Printausgabe, Montag, 12. Juni 2006)

Wendelin Schmidt-Dengler, Professor der Literaturwissenschaft in Wien. F.: Fischer