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Foto: APA/EPA/ALBERTO ESTEVEZ
Faly ist 19 und kommt aus Guinea-Bissau. Er steht in Ceuta auf dem Parkplatz des großen Supermarktes, gemeinsam mit weiteren Jungs aus Mali, Benin, dem Niger, dem Senegal. Sie tragen Einkaufstaschen, weisen Autos in Parklücken. Manchmal bekommen sie dafür einen Euro, meist nicht. Aber sonst können sie nichts tun: Faly und die anderen sind Flüchtlinge, gestrandet in einer kleinen spanischen Stadt, die sich an einen Zipfel Nordafrikas klammert, gleich gegenüber von Gibraltar - auf EU-Territorium, und doch nicht in Europa.

Tränengasanlage

In Ceuta treffen Afrika und die EU aufeinander. Die Beziehung zwischen den beiden zieht sich als sechs Meter hoher Doppelzaun durch das hügelige Hinterland der Stadt. Das Bauwerk aus Beton und Stacheldraht soll Europa vor dem Ansturm der Verzweifelten schützen: Alle 40 Meter ein Wachturm, Richtmikrofone, Scheinwerfer, eine Tränengasanlage, bis zu 1200 Grenzwachen und Militär. Etwa 3000 Flüchtlinge und Auswanderer lagern in den Hügeln hinter dem Zaun.

Immer auf der Flucht vor dem marokkanischen Militär, warten sie monatelang auf eine Gelegenheit, über den Zaun zu kommen. Die meisten scheitern wieder und wieder. "Wenn jemand im Blickfeld der Wärmekameras auftaucht, schießen wir mit Tränengas und Gummikugeln", erklärt der spanische Grenzkommandant. Ärzte ohne Grenzen erläutern die Folgen: Zerschmetterte Wangenknochen, zerplatzte Augäpfel, gebrochene Schlüsselbeine.

Straßenkinder

Faly zeigt mir eine Narbe an der knochigen Wange, knapp unter dem rechten Auge. "Ich habe Glück gehabt", sagt er. Er hat es geschafft, über den Zaun zu kommen. "Ich habe mir den Fuß gebrochen, aber was ist das schon gegen Europa", sagt er. Faly ist schon sechs Jahre auf der Flucht. Mit 13 überrascht ihn ein Umsturz in Guinea-Bissau, gemeinsam mit einem Freund flieht er nach Mali.

Die beiden schlagen sich als Straßenkinder durch, bis sie mit 16 Jahren von einer Gruppe erfahren, die sich nach Europa aufmachen will. Zu Fuß gehen sie los, quer durch die Sahara. "Diese Monate waren die schlimmsten meines Lebens", sagt Faly. "Wir haben uns fast nur von Zuckerwasser ernährt. Immer wieder sind Leute aus der Gruppe gestorben. Wenn einer krank wurde, mussten wir ihn in der Wüste zurücklassen." Irgendwann erreichen sie die Grenze zu Marokko, bleiben ein Jahr hängen, viermal gehen sie die 600 Kilometer bis Ceuta, werden aufgegriffen, wieder nach Algerien zurückgeschickt. Beim fünften Mal klappt es. Nun wartet Faly seit Monaten auf Asyl.

Durchschnittsgehalt

Warum tut man sich diese Strapazen an? Ben mischt sich ein - ein großer, schlaksiger Mann mit einer Nike-Kappe. Er kommt aus Mali und ist seit vier Jahren unterwegs - erst mit dem Lastwagen durch die Sahara, dann hat er zweimal versucht, mit einem Flüchtlingsboot nach Spanien zu kommen. Beide Male wurde er aufgegriffen. Dabei hatte er noch Glück - über 30.000 Menschen sind beim Überqueren des Mittelmeeres in den vergangenen 10 Jahren gestorben. Dann war das Geld weg, er versuchte es am Zaun.

Nach einem Jahr schafft er es und hängt nun auch in Ceuta fest. "Keiner nimmt das aus Abenteuerlust auf sich. Wir sind hier, weil wir keine Wahl haben", sagt er bitter. Bens ganzes Dorf hat zusammengelegt, um den jungen Mann nach Europa zu schicken - 9000 Euro haben die Versuche bisher verschlungen.

Das Durchschnittsgehalt in Mali liegt bei 60 Euro. "Es ist die einzige Chance für das Dorf", sagt Ben. "Bei uns reicht der Regen nicht mehr für die Landwirtschaft, jedes Jahr gibt es eine große Hungersnot. Die Viehzucht bringt nichts, weil alle billige französische Pulvermilch kaufen. Und die Entwicklungshilfe landet direkt auf den Schweizer Bankkonten korrupter Beamten." Ben tritt gegen die Mauer: "Wir sind hier, weil ihr dort bei uns seid. Wir haben keine Wahl."

Perspektivlosigkeit

Die Zahlungen von Migranten an ihre Heimatländer übersteigen die offizielle Entwicklungshilfe um das Dreifache, errechnete die Weltbank. Kriege, Hunger, Perspektivlosigkeit und die Bilder von Europa auf den Fernsehschirmen treiben hunderttausende in die Flucht: Aus Mali und dem Niger starten täglich Lastwägen voller Flüchtlinge in die Sahara. 50.000 Menschen aus den Ländern südlich der Sahara sollen in Marokko darauf warten, nach Europa zu kommen.

Zwei Millionen sollen es in Libyen sein. 500.000 warten derzeit in Mauretanien auf eine Gelegenheit, auf die kanarischen Inseln überzusetzen. Bis zu tausend pro Tag schaffen die gefährliche Strecke. Seit die EU mit Flugzeugen und Satelliten die Fluchtrouten aus Mauretanien kontrolliert, kommen Boote aus dem Senegal und sogar aus der Elfenbeinküste auf den Kanaren an - ein Selbstmordkommando. Aus Westafrika ist ein ständiger Strom von Menschen unterwegs, die vor Hunger und Aussichtslosigkeit fliehen.

Rücknahmeabkommen

Es treibt sie der Hunger - und das Wissen, dass sie in Europa Arbeit finden werden. "Verwandte von mir arbeiten in Spanien. Wenn ich diese 14 Kilometer Meer überwinde, habe ich einen Job", sagt Ben. Er hat keine Chance auf Asyl. Mali gilt als sicheres Herkunftsland, sobald die EU ein Rücknahmeabkommen ausgehandelt hat, würde er abgeschoben. Ben versteckt sich deshalb in einer Lagerhalle am Hafen. Er will mit einem Boot aufs europäische Festland. Die Meerenge wird hart kontrolliert, die Fahrt kann tödlich sein. "Ich bin bereit zu sterben. Für uns heißt es: Europa oder der Tod", sagt Ben.

Freiluftgefängnis

Faly lässt sich zum Essen einladen. Angesichts des vollen Tellers bricht seine sonst harte Fassade auf. "Ich habe seit sechs Jahren nichts von meiner Familie gehört, ich kann nicht arbeiten, ich bin hier in einem Freiluftgefängnis gefangen", murmelt er. Zumindest hat er einen Freund aus der Heimat, der den Weg mit ihm gemeinsam gemacht hat. Faly senkt seinen Kopf und beginnt stumm zu weinen. Sein Freund, mit dem er sechs Jahre lang nach Europa gegangen ist, wurde am 28. September von der spanischen Grenzpolizei beim Überklettern des Zaunes erschossen. (DER STANDARD, Printausgabe, 17./18. 6.2006)