Tony Judt: "Immer mehr Leute fragen sich jetzt, ob es nicht doch stimmt, dass in Amerikas Nahostpolitik der Schwanz mit dem Hund wedelt."

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STANDARD: Ist die Krise in den transatlantischen Beziehungen, die durch den Irakkrieg ausgelöst wurde, vorbei?

Judt: Wenn sich Beziehungen zwischen Verbündeten so dramatisch verschlechtern wie zwischen Europa und Amerika, dann ist es klar, dass etwas geschehen muss. Es ist bizarr, dass Bush einen solchen abnormen Zustand herbeigeführt hat, denn gerade die USA profitieren von normalen Beziehungen. Dazu kommt die Katastrophe des Irakkriegs – militärisch, politisch und in der öffentlichen Meinung: Beide Seiten haben ein aktives Interesse, dass sich die diplomatischen Beziehungen wieder verbessern. Aber wenn man in Brüssel oder Washington mit Experten spricht, merkt man rasch, dass der von Bush angerichtete Schaden noch lange nicht repariert ist – und schon gar nicht in der breiten Öffentlichkeit.

STANDARD: Ist die Feindseligkeit der Europäer gegen Bush gerichtet oder gegen die USA an sich?

Judt: Die USA und Europa haben sich auseinanderentwickelt, aber nicht nur wegen Bush. Es gab eine Zeit, da war man in Europa überzeugt, dass Amerika die Zukunft repräsentiert. Das ist heute nicht mehr der Fall. Amerika steht für ein fehlendes Sozialsystem, für die Todesstrafe, für Umweltzerstörung. Das bietet keine Vision für die Zukunft.

STANDARD: Würde sich das europäische Bild der USA unter einem anderen Präsidenten ändern?

Judt: Nicht unbedingt. Es wird wieder ein Republikaner sein, denn jeder, mit dem ich in den USA spreche, ist überzeugt, dass Hillary Clinton die Nominierung der Demokraten nicht verlieren, aber die Wahl nicht gewinnen kann. Bisher hat man gesagt, dass John McCain zwar jede Wahl _gewinnen würde, aber nicht die republikanische Nominierung, weil er nicht rechts genug steht. Aber inzwischen sind die Republikaner so nervös, dass sie McCain vielleicht doch aufstellen werden. Und McCain ist klug genug, sich als „echter“ Republikaner zu präsentieren.

STANDARD: Was wäre McCain für ein Präsident?

Judt: Allgemein glaubt man, dass McCain ehrlich, intelligent und ein Realist ist. Er weiß, dass ein US-Präsident seine Verbündeten nicht beleidigen soll, dass man keinen Krieg ohne Grund führt, dass Folter moralisch verwerflich ist. Er steht für eine konventionelle republikanische Außenpolitik, die sich von der eines demokratischen Präsidenten nicht so sehr unterscheidet.

STANDARD: Und was würde er anders machen?

Judt: McCain würde versuchen, die Politik gegenüber dem Iran zu mäßigen und nicht mehr so stark auf den Nahen Osten fixiert zu sein, sondern den Schwerpunkt der US-Außenpolitik nach China und Ostasien zu verlagern. Die Beziehungen zu den Europäern würden sich verbessern, aber die grundlegenden Spannungen würden bleiben.

STANDARD: Sie haben als einer der wenigen die beiden Politikwissenschafter Stephen Walt und Mearsheimer verteidigt, die in einem umstrittenen Artikel der "Israel-Lobby" vorwerfen, die US-Außenpolitik in Geiselhaft zu nehmen. Kritiker werfen Walt und Mearsheimer Antisemitismus vor. Hat diese Debatte etwas gebracht?

Judt: Ja, denn vor zehn Jahren hätte man diesen Artikel gar nicht veröffentlichen können. Der Artikel hat viele Fehler, aber immer mehr Leute fragen sich jetzt zumindest, ob es nicht doch stimmt, dass in Amerikas Nahostpolitik der Schwanz mit dem Hund wedelt. Es ist dieser "Israel-Lobby" gelungen, die US-Öffentlichkeit zu überzeugen, dass Antizionismus gleich Antisemitismus ist, und über die Beschäftigung mit dem Holocaust das Bündnis der USA mit Israel einzuzementieren. Aber das ändert sich langsam, auch weil die junge Generation sich nicht mehr so stark für den Holocaust interessiert. Der Staat Israel hat nur noch wenige Jahre, in denen er für jede Dummheit, die er begeht, auf die bedingungslose Unterstützung der USA zählen kann.

STANDARD: Sie preisen das europäische Modell als Vorbild für die Welt an. Aber gleichzeitig wachsen in Europa selbst die Zweifel an der eigenen Politik.

Judt: Das ist das Versagen der europäischen Politiker. Wenn ich mir die Generation von Politikern wie Balkenende, Sarkozy und Blair anschaue, dann möchte ich am liebsten weinen. Sie haben kein Gefühl für ihre weltpolitische Verantwortung. China stellt als Gesellschaft nicht die Zukunft der Welt dar, und es sind auch nicht die USA. Vor allem nach der Katastrophe der Bush-Präsidentschaft ist Europa das Modell des Westens, dem der Rest der Welt nacheifern will. Aber ich höre keinen Politiker, der begeistert über die Stärken Europas spricht. Europa muss seine unglaubliche Macht der Verlockung begreifen. Es muss seine Nabelschau beenden und lernen, die externen Konsequenzen seines Handelns mit zu berücksichtigen. (DER STANDARD, Print, 22.6.2006)