Am Tag "danach" ist rankreich eine traumatisierte Nation. Dass ie Bleus nicht Weltmeister geworden sind, fällt fast nicht ins Gewicht, wohl aber der Fall des großen Helden, Zinédine Zindane.

Der übrigens hatte sogar mich vor den Fernseher gelockt. Normalerweise bin ich kein Fußball-Fan, aber die erstaunliche Geschichte dieser Mannschaft, der niemand auch nur die Qualifikation zutraute und die dann im Finale stand, angeführt von einem Mann, dessen Charisma fühlbar ist und den man eigentlich schon abgeschrieben hatte, das alles hat mich fasziniert, schon weil es sich so anfühlte, als würde man einen großen Roman lesen: Kapitel für Kapitel gibt es neue Wendungen und man weiß von einem Moment auf den anderen nicht, ob die Helden ihr Ziel erreichen werden.

Es ging alles eigentlich zu glatt: Die eingemotteten Heroen, die wieder auf den Rasen kommen und nach einem gleichgültigen Anfang plötzlich übermenschliche Kräfte finden, kommen ins Finale. Der Held der Stunde schießt ein frühes Tor, von dem sogar ein Laie wie ich sehen kann, dass es sublim ist, eine Frechheit, wie sie sich nur ein großer Künstler herausnehmen darf, perfekt kalkuliert, fast unglaublich vollkommen. Die goldene Trophäe wartet schon in Sichtweite, am Rande des Rasens, die Apotheose ist nahe, ach so nahe. Alles Hollywood-Kitsch, man hört schon das Horn-Solo über Streicherteppich. Ein Sommer-Blockbuster eben.

Dann kommt das Gegentor, wieder etwas dramatische Spannung (so sieht es ein gutes Drehbuch vor), aber die Helden der Stunde mobilisieren noch einmal ungeahnte Reserven, dominieren das Spiel, haben mehr Chancen, sie werden es schaffen, sie müssen es schaffen, schließlich steht es so im Skript.

Aber dies ist nicht Hollywood. Es ist viel besser. Zehn Minuten vor Schluss einer fulminanten und umjubelten Weltkarriere, zehn Minuten bevor er (ob Sieger oder nicht) von einer Nation auf Händen getragen worden wäre, ein säkularer Heiliger, dreht sich der Held buchstäblich auf der Hacke um und rammt einem Gegner den Schädel in die Brust, dass er niedergeht und liegen bleibt.

Der große Zinédine Zidane, der unbestrittene Held der Weltmeisterschaft und in diesem Moment wohl der am intensivsten beobachtete Mensch der Welt, benimmt sich vor laufenden Kameras wie ein Straßenjunge. Millionen von Zuschauern sitzen ungläubig da, als er seine Karriere mit einer roten Karte beendet, seine Mannschaft verlassen muss und der Traum beim Elfmeterschießen in sich zusammenbricht. (Barthez, der Clown, hat natürlich nichts gehalten …)

In Paris war das fühlbar. Vor dem Spiel herrschte erwartungsvolles Gewimmel auf den Straßen. Die Leute liefen kreuz und quer, einige mit Fahnen, sogar die Babys wedelten damit. Irgendwo rief jemand "Allez les bleus!", dann fuhr ein hupendes Auto vorbei, aus dessen Fenster jemand ein Trikot mit Zidanes Nummer schwenkte.

Dann, kurz vor dem Spiel, wurde es sehr still. Kein Auto auf der Straße, kein Krakeelen. Angespannte Ruhe, die sich erst bei Zidanes Tor in der sechsten Minute in ungeheurem Gebrüll entlud.

Es ist schon seltsam, dieses Geräusch durch die sommerlich offenen Fenster zu hören, unlokalisierbar und scheinbar unendlich, ein Brüllen aus unzähligen unsichtbaren Mündern: als lebe unter der Stadt ein urzeitliches Ungeheuer, das plötzlich aus dem Schlaf erwacht. Man versteht etwas über Kriegsbegeisterung in solchen Augenblicken.

Bald wurde es wieder ruhig, aber ganz anders als zu Beginn des Spieles: eine nervöse, immer wieder durch Rufe zerrissene Stille, eine Ruhe vor dem Sturm. Dann kommt der Kopfstoß. Absolute Stille. Sogar die Drossel, die hier abends immer singt, scheint von ihrem Zweig aus stumm und verständnislos einen Fernsehschirm zu fixieren. Zizou, der große Held? Ausgerechnet er? Von keinem anderen Spieler wäre es überraschend gewesen, aber von ihm?

Als ausnahmsweise fußballbegeisterter Mensch war ich wie vom Donner gerührt. Als Autor bin ich vor Neid erblasst. Wer könnte das so schreiben? Wer würde sich das trauen? Kein Lektor würde so etwas durchgehen lassen, kein Leser und kein Zuschauer würde es glauben. Die wirklich großen Momente der Literatur sind die, in denen etwas Unvorstellbares passiert, etwas, was man nicht einmal fürchten konnte, weil es unmöglich erschien. Aber das? Das geht einfach zu weit. Niemand nimmt einem das ab.

Tatsächlich ist dies ein unendlich viel stärkeres Ende als ein offener Bus voller Nationalspieler auf den Champs- Elysées: Die verlorene Beherrschung brachte echte Tragik in das Spiel. Zidane hat uns daran erinnert, dass er ein Mensch ist, ein Mensch, der in der intensivsten Situation seines Lebens für einen kostbaren, unwiederbringlichen Moment die Beherrschung verlieren kann.

Er hatte geschafft, was alle Experten für völlig ausgeschlossen hielten, er war unendlich diszipliniert, ein fulminanter Könner und ein echter Anführer und dabei immer ein Gentleman gewesen, bescheiden, professionell, großzügig.

Um so viel zu erreichen, ist es aber nicht genug, ein netter Mensch zu sein, nicht einmal ein netter Mensch mit einer riesigen Begabung. Ganz andere, dunkle Instinkte müssen am Werk sein, damit man sich über Wochen so verausgaben kann, völlig konzentriert auf ein einziges Ziel. Für einen Moment hat sich der Killerinstinkt gezeigt, der einen überhaupt erst an solche Grenzen führt.

Zizou, der kompromittierte Held, ist kein steril konsumierbares Hollywood-Produkt, sein Aufstieg und Fall ist ein Epos in der großen dramatischen Tradition. Als Autor bewundere ich die Frechheit des Lebens, so eine Geschichte zu schreiben. Als Mensch würde ich Zidane gerne einmal die Hand schütteln, denn er ist doch einer von uns. (Philipp Blom, DER STANDARD Printausgabe 11. Juli 2006)