Seit mehr als 25 Jahren leben die Bewohner der Wohnsiedlung Am Schöpfwerk in Meidling auf engstem Raum nebeneinander. Trotz vieler Nachbarschaftskonflikte unter Neo- und alteingesessenen Österreichern schätzen alle die Grünlage.

Foto: DER STANDARD/Urban
Wien – Ein paar Frauen fahren miteinander im Lift und unterhalten sich lebhaft in türkischer Sprache. Eine andere Frau steigt zu. Sie wohnt auf derselben Stiege in der nicht gerade mit einem guten Ruf beschiedenen Wohnhausanlage "Am Schöpfwerk" – und würde eigentlich gerne wissen, worüber die anderen reden. Sie alle haben sich schon oft gesehen, aber sich noch nie gegrüßt, geschweige denn miteinander gesprochen. "Die grüßen nie", ärgert sich deshalb die Frau, die kein Türkisch versteht.

Alltägliche Berührungsängste wie diese waren Ausgangspunkt für die Schauspieler des Wiener "urtheater", die gemeinsam mit den Bewohnern des Schöpfwerks Szenen zum Tabuthema "Grüßen" entwickelten und spontan nachspielten. Neun Illustratoren bannten die improvisierten Handlungen auf Papier, um die verschiedenen Stimmungen zu erhalten. Geladen hatte das Schöpfwerker Stadtteilzentrum Bassena, das für seine "Integrationsgespräche zum Leben im Gemeindebau", in deren Rahmen auch das Improvisationstheater stattfand, im Oktober den Inter-Kultur-Preis 2006 erhält.

"Wir sind das Thema Nachbarschaftskonflikte sinnlich angegangen," erklärt Bassena-Leiterin Renate Schnee den großen Zuspruch unter den Schöpfwerkern. Durch das bewegte Aufarbeiten seien viele Missverständnisse und Vorurteile, die sich in Alltagsrassismus ausdrücken, ausgeräumt worden.

Verändertes Klima

"Es ist uns aufgefallen, dass jede der vier Mietervertretungen in erster Linie aus älteren österreichischen Männern zusammengesetzt ist," schildert Schnee den Ursprung der Integrationsgespräche. Deshalb wurden sowohl Mietervertreter als auch neoösterreichische Schöpfwerkbewohner an mehreren Abenden eingeladen, ihre Sorgen und Hindernisse beim Leben mit verschiedenen Kulturen kundzutun und Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Die Anliegen wurden gegenseitig präsentiert und schließlich an Kommunalpolitiker und Verwaltungsbeamte gerichtet. Dabei wurde deutlich, wie viele Übereinstimmungen es zwischen zugewanderten und österreichi-schen Bewohnern gab, vor allem hinsichtlich der zum Teil prekären Wohnbedingungen.

Im Gespräch mit den Politikern war die Herkunft schließlich vergessen und alle Schöpfwerker traten vereint auf, um sich für Hausbesorger und ein freundlicheres Service von Wiener Wohnen stark zu machen. Eine direkte Folge war die Einrichtung der ersten gemischtsprachigen Mietervertretung, die nun aus zwei deutschsprachigen, einem türkisch und einem arabisch sprechenden Bewohner besteht. "Das Klima hat sich verändert, weil Probleme sachlicher behandelt werden", konstatiert Schnee.

Konfliktherd Lärm

Eines der größten Konfliktpotenziale in der 1980 erbauten Wohnanlage im südlichen Meidling ist der Lärm der Nachbarn. Rund 5000 Menschen wohnen auf dem 18-Hektar-Areal Wand an Wand. "Durch die dünnen Mauern hört man die Klospülung und die Dusche fast so laut wie die eigene. In den Bädern können Gespräche der darüber- und darunterliegenden Parteien glasklar mitgehört werden, nicht zu sprechen von Streit, Schnarchen oder anderen menschlichen Geräuschen," berichtet Schnee. "Da wird schnell ein Schuldiger gesucht – und im kulturellen Hintergrund mancher Bewohner gefunden."

Dass die Bewohner trotz der räumlichen Beengtheit überwiegend zufrieden sind, stellten die Bassena-Mitarbeiter in einer Umfrage fest, an der 14 Prozent der 1650 Haushalte teilnahmen, davon 75 Prozent mit deutscher, der Rest mit arabischer, türkischer oder einer einer anderen Muttersprache. 70 Prozent der Befragten zeigten sich mit ihrer Wohnsituation zufrieden, vor allem aufgrund der Grünlage. Fast 60 Prozent gaben an, einen guten oder sogar sehr guten Kontakt mit ihren Nachbarn zu pflegen. Von den 30 Prozent Unzufriedenen klagte die Hälfte über die Baumängel, der Rest über zu hohe Kosten und den Lärm. Nur acht Prozent meinten, dass zu viele Migranten in der Siedlung wohnen würden – ein positives Zeichen für Renate Schnee, die sich vor dem bevorstehenden Wahlkampf fürchtet, "weil da so viele Menschen, die sich engagieren und austauschen wollen, gekränkt werden."

Potenzial Mischkulanz

Mit ihren Projekten will Bassena deshalb auf die Potenziale der Mischkulanz der Kulturen hinweisen. Deswegen werden auch die Integrationsgespräche nach dem Sommer wieder fortgesetzt und strittige Fragen wie die angeblich stärkere Unterdrückung von Frauen in Migrantenfamilien, weiterdiskutiert. "Jetzt haben wir wieder Geld," freut sich Schnee über die 3000 Euro Preisgeld, die die oberösterreichische Gesellschaft für Kulturpolitik der SPÖ und der Volkshilfe Flüchtlingsbetreuung – heuer unter dem Vorsitzvon Altbundeskanzler Franz Vranitzky – für kulturelles, soziales und wissenschaftliches Engagement "gegen sozialen Zynismus und gesellschaftliche Ausgrenzung" an die Bassena vergibt. (Karin Krichmayr, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.7.2006)