Daniel Defoe (Christian Reder, Hrg.)
"Ein Essay über Projekte".
London 1697.
Übersetzung von Hugo Fischer (1890) überarbeitet von Werner Rappl.
€ 24,95/251 Seiten.
Springer, Wien/New York, 2006

Christian Reder, Hrg.
"Lesebuch Projekte. Vorgriffe, Ausbrüche in die Ferne".
€ 29,90/529 Seiten.
Springer, Wien/New York, 2006.

Buchcover: Springer Verlag
Wer über Projekte nachdenkt, stellt bald fest, dass sie allgegenwärtig sind. Firmen haben Projekte, Privatpersonen haben sie, Künstler leben immer mit ihnen und durch sie, Historiker sprechen über die Projekte der Aufklärung oder der Moderne, das Projekt Europa impliziert uns alle. Dabei läuft nur ein schmaler Grad zwischen dem Projekt und der Spinnerei, denn wer etwas verändern will, muss sich eine ganz andere Welt vorstellen können. Das Projekt ist schließlich etwas, was über unsere Realität hinausgeworfen wird.

Dieses Anders-Denken, die Vielzahl der Perspektiven, kann schwindelig machen. An Wahrheiten kann man sich festhalten, aber eine Welt aus perspektivischen Facetten bietet keine Sicherheit. Erst wenn die Realität als bedrückend empfunden wird, wirken andere Sichtweisen verlockend. Als mit der Aufklärung aus den Realitäten des Glaubens und des Absolutismus die Möglichkeiten von Vernunft und Intuition wurden, blühten Projekte und Utopien auf: von Diderots Enzyklopädie bis zur Gründung Sankt Petersburgs, von der Erforschung neuer Kontinente zur Französischen Revolution. Erst die Aufklärung hat uns so viel Schwung und so viel Haltlosigkeit gegeben. Ein säkularer Blick auf die Welt erkennt zwar Gesetzmäßigkeiten, aber er weiß auch, dass die so genannte Wahrheit nicht über den Wassern schwebt, sondern eine Frage der Perspektive ist. Die Welt wird zur Herausforderung an den Einzelnen, dem Wirklichkeitssinn des Realisten tritt ein Möglichkeitssinn entgegen.

Robert Musil, dessen Mann ohne Eigenschaften eine skeptische Hymne auf diesen neuen Sinn ist, definiert ihn als die Fähigkeit, "alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist ...

Möglichkeitsmenschen

Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Fantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler." Die Irritation der Realisten ist verständlich, denn für die Fantasten und Träumer, die unsere Welt verändern, ist die Wirklichkeit nichts als die zufällig so ausgehärtete Form unendlicher Möglichkeiten, ähnlich wie die willkürlichen Gebilde beim Bleigießen zu Neujahr. Alles hätte auch anders sein können, es könnte also alles auch anders werden, man muss nur wagen, es anders zu denken.

Auch Daniel Defoes Essay Upon Projects gehört zu den aufklärerischen Versuchen, die Welt anders zu denken. Lange bevor er seinen Robinson Crusoe schrieb (auch eine Utopie), beschrieb der Wirkwarenhändler, Bankrotteur und Weltverbesserer Defoe in diesem Text Erneuerungen, die ihm notwendig erschienen: regionale Banken, Straßen und Kanäle, Militärakademien – ein geordnetes Zusammenleben in einer modernen Gesellschaft. Der Möglichkeitssinn, der ihn als Geschäftsmann ruinierte, weil er sich auf zu riskante Spekulationen einließ, machte ihn zu einem großen Autor.

Von Alexander Kluge über Christoph Schlingensief und Anselm Kiefer bis hin zu Zarah Hadid

Wie viele Projektdenker war Defoe seiner Zeit voraus (nur von Projekten, die nie verwirklicht werden, sagt man, ihre Erfinder seien Spinner gewesen), und das war Grund genug für den Kommunikationswissenschafter Christian Reder, diesen Text neu aufzulegen und mit einer ausführlichen historischen Einleitung zu versehen. In einem weiteren Band sammelt Reder Essays und Interviews mit Projektdenkern von heute, von Alexander Kluge über Christoph Schlingensief und Anselm Kiefer bis hin zu Zarah Hadid, die das Phänomen des Projektes von unterschiedlichen Perspektiven beleuchten.

Anders als Utopien sind Projekte Teillösungen, und in einer Zeit, die großen Visionen gegenüber skeptisch ist, sind sie zum idealen Vehikel für Veränderung geworden. Big Business funktioniert heute projektorientiert (was es auch möglich macht, punktuell einzustellen und zu entlassen), und Naturwissenschafter, auf Zusammenarbeit angewiesen, kollaborieren mit Kollegen in aller Welt, um bestimmte Fragen zu lösen. Auch in der Politik sind die großen Ideologien durch Einzelthemen ersetzt worden, sei es der Schuldenerlass für Afrika oder die Europäische Union.

Der Hase weiß viele kleine Dinge, die Schildkröte ein großes

Der russisch-britische Philosoph Isaiah Berlin illustrierte den Unterschied zwischen Projekt und Utopie an der Geschichte von Hase und Schildkröte. Der Hase weiß viele kleine Dinge, die Schildkröte ein großes. Der Hase ist ein Projektdenker, die Schildkröte ein Utopist. Die Hasen müssen aufpassen, denn wir wissen, wie die Geschichte ausgeht: Im Wettrennen mit der Schildkröte stirbt der Hase schließlich vor Erschöpfung, denn wo er auch ankommt, ist die Schildkröte (oder doch zumindest eine Schildkröte) schon längst da. Das ist heute auch für viele Künstler so. In unserer Kultur des manischen Bewahrens und Archivierens scheint alles schon getan und gesagt zu sein. Gleichgültig, wie schnell der Hase rennt, er entkommt nie dem Schatten seiner Vorgänger.

Schon Musil, der Projektdenker schlechthin, dessen großer Roman selbst passenderweise ein unvollendetes Projekt ist, konnte dem Möglichkeitssinn, der ihm so wichtig war, nur ironisch gegenüberstehen. Ulrich, seine Hauptfigur, hatte drei Mal das Vorhaben, ein bedeutender Mann zu werden (als Offizier, Mathematiker und Ingenieur), und ist dreimal gescheitert, teilweise auch, weil sein Möglichkeitssinn so ausgeprägt ist, dass ihn die Wirklichkeit kaum interessiert. Das zentrale Projekt des Romans aber, die Parallelaktion zum Thronjubiläum des Kaisers, ist ein endloses und undefinierbares Elend, das bald von den Machinationen widerstrebender Interessen und mittelmäßiger Intelligenzen zerrieben wird, ein tot geborenes Projekt.

Das Projekt des geglückten Lebens

So bleibt Ulrich nur, was uns allen bleibt: das Projekt des geglückten Lebens jenseits von Auskommen und Altersversorgung, die Entdeckung des Selbst als einer Möglichkeit, die auf ihre Verwirklichung wartet, ganz so, wie es Ulrichs (und Musils) großes Vorbild Nietzsche (noch ein Schatten der Vergangenheit!) beschriebe, als er das eigene Wollen der Übermacht der Vergangenheit entgegensetzte. Das Leben selbst wird so zum Projekt, Möglichkeitsmenschen zu Romantikern der Tat.

Romantiker freilich wissen, dass die Vielfalt der Möglichkeiten nicht nur im hellen Tageslicht des Verstandes liegt, sondern auch aus dem Dunkel kaum verstandener Motivationen stammt. Wenn wir etwas über die Realität hinauswerfen, kommt das trotzdem immer aus schattenhaft erinnerten Vergangenheiten. "That quaint witch memory and her sister, hope" (die seltsame Hexe Erinnerung und ihre Schwester Hoffnung) nannte Shelley dieses Paar, dem wir alle nicht entfliehen können. Vielleicht fängt das geglückte Leben in dem Moment an, in dem wir begreifen, dass die zweite die schönere der beiden Schwestern ist, dass es sich lohnt, mit ihr eine Affäre anzufangen, auch wenn sie ihren Liebhabern nur selten treu ist. (Philipp Blom, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22./23.7.2006)