Zur Person

August Ruhs (60) (links), ist nach eigener Definition "leidenschaftlichter Psychoanalytiker" und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Verbindung von Therapeutik, Gesellschaft und Kultur. Der Facharzt für Psychiatrie und Neurologie ist zudem stellvertretender Vorstand der Wiener Universitätsklinik für Tiefenpsychologie und Psychotherapie an der Med-Uni Wien. Er hat zwei Kinder und lebt in Wien

Lukas Pezawas (37) (rechts), Facharzt für Psychiatrie und Verhaltenstherapeut, ist Leiter der Hauptambulanz, des EEG-Labors und einer Forschungsgruppe für Neuroimaging an der Uniklinik für Psychiatrie. Seit seinem Forschungsaufenthalt am National Institute of Mental Health in den USA beschäftigt er sich mit den Auswirkungen von Risikogenen auf die Hirnentwicklung. Pezawas ist unverheiratet und lebt in Wien

Foto: Standard/Regine Hendrich
Gibt es den Trend zur Medikamentisierung in unserer Gesellschaft? Aus Sicht des Psychoanalytikers August Ruhs greift eine Tablette gegen Depression zu kurz, für Psychiater Lukas Pezawas sind Medikamente eine gute Therapie. Das Gespräch führte Sabina Auckenthaler.

STANDARD: Rund 200.000 Euro werden in Österreich für Psychopharmaka ausgegeben, fast die Hälfte davon für Antidepressiva. Beunruhigt Sie das?

Pezawas: Depressionen sind heute bereits die dritthäufigste Erkrankungsgruppe weltweit. Die Weltgesundheitsbehörde prognostiziert, dass sie 2015 den ersten Platz einnehmen werden. Gesellschaftliche Veränderungen wie etwa die wachsende Überforderung am Arbeitsplatz oder die Zunahme allein erziehender Mütter erhöhen die Zahl der Erkrankungen und somit den Behandlungsbedarf.

Ruhs: Aber es gibt zwei verschiedene Behandlungswege. Man kann einem Menschen sagen: Du lebst unter ungünstigen Bedingungen, aber wir geben dir etwas, damit du es nicht so schwer nimmst. Oder man befähigt ihn dazu, seine Umwelt zu verändern, damit er keine Depression mehr haben muss.

STANDARD: Tatsächlich wird an Psychopharmaka oft kritisiert, dass sie nur die Symptome und nicht die Ursachen bekämpfen.

Pezawas: Das ist richtig. Aber das ist ein ganz normales Prinzip in der Medizin. Der Patient kommt mit Beschwerden, und wir versuchen, diese zu lindern, sodass er wieder ein normales Leben führen kann.

STANDARD: Heißt das, psychische Störungen sind eigentlich nicht heilbar?

Pezawas: Heilbar im streng medizinischen Sinn sind sie durch Medikamente oder andere Therapieformen nicht. Depressionen treten häufig zyklisch auf, wobei sich der Verlauf von Mensch zu Mensch unterscheidet. Aber mithilfe moderner Psychopharmaka sind die Beschwerden oft relativ einfach therapierbar.

Ruhs: Heilung und Krankheit im psychischen Bereich sind heikle Begriffe. Wenn es sich um eine Störung im unbewussten Vorstellungsbereich handelt, kann man das schon korrigieren. Wenn jemand etwa Sexualität radikal missverstanden hat und Lust mit Gewalt verbindet, kann er durchaus von dieser Vorstellung geheilt werden. Wenn aber, wie bei schweren psychischen Störungen, Strukturen und Funktionen auch gestört sind, kann man wohl nur eine Stabilisierung erreichen.

STANDARD: Man muss also unterscheiden, ob eine Krankheit vererbt oder durch äußere Umstände ausgelöst wurde?

Ruhs: Ja. Zudem muss man unterscheiden, ob es sich um eine soziale oder um eine biologische Vererbung handelt. Jeder Täter war auch einmal Opfer. Aus Sicht einer Mehrgenerationentherapie lässt sich etwa in der Familientherapie die Übertragung gewisser pathogener Faktoren innerhalb eines sozialen Systems gut nachweisen.

Pezawas: Für die Therapierbarkeit ist es völlig unerheblich, ob genetische oder soziale Bedingungen dahinterstehen. Wenn jemand depressiv ist, ist er depressiv. Natürlich muss man körperliche Ursachen ausschließen. Aber dann ist die Diagnose klar und somit eine Indikation für eine psychiatrische Behandlung gegeben.

Ruhs: Genau da gehen unsere Wege völlig auseinander. Wir gehen davon aus, dass jede psychische Störung einzigartig ist, weil es nie zwei Subjekte gibt, die man miteinander wirklich vergleichen kann. Daher kann man ein Leben nie objektivieren und verallgemeinern.

STANDARD: Gibt es in der Psychiatrie also den Begriff des Individuums nicht?

Pezawas: Doch, natürlich. Jeder Mensch ist durch seine genetische Ausstattung einmalig. Dies ist auch biologisch durch DNA-Tests gut erfassbar. Wenn wir zwei Gehirne vergleichen, sehen wir, dass sie anatomisch verschieden sind. Jeder hat spezielle genetische Risikokonstellationen. Bei der Medikamentenabstimmung gehen wir auf diese Individualität sehr wohl ein.

Ruhs: Aber man kann doch nicht davon ausgehen, dass sich das Wesen eines Liebesbriefes durch die chemische Analyse der Tinte erfassen lässt, mit der er geschrieben wurde. Was ein Mensch erlebt und erfährt, ist nicht einfach in einem bestimmten Gehirnareal verortet. Man sieht das sehr deutlich in Gruppentherapien. Da stellen sich sehr komplexe Beziehungen zwischen den Subjekten her, die man nicht in einem Hirn lokalisieren kann.

STANDARD: Wie lange dauern psychiatrische Diagnosen?

Pezawas: Das ist unterschiedlich. Wir sind darauf angewiesen, was Patienten im Gespräch von sich preisgeben. Es gibt noch keine Labortests, um festzustellen, was jemand genau braucht. Bei einem depressiven Patienten, der offen über seine Beschwerden redet, kann die Diagnose schon nach einer halben Stunde gestellt werden. Dann kann man eine medikamentöse Therapie vorschlagen, und zu 80 Prozent tritt nach zwei Wochen eine Besserung ein. Wenn jemand auf ein Medikament nicht anspricht, versuchen wir es mit einem alternativen Präparat, oder wir schlagen eine Kombination mit einer Psychotherapie vor. Es gibt auch komplexere psychiatrische Störungen, aber meistens ist die Behandlung relativ einfach.

Ruhs: Wir sehen die Frage, was ein Patient braucht, viel umfassender. Es geht auch um die Einstellung eines Menschen bezüglich der Beeinflussung seines Seelenlebens. Wenn jemand nur den Anspruch hat, dass es ihm besser gehen soll, kann eine schnell wirkende Behandlung mit Medikamenten sinnvoll sein. Wenn jemand aber erkennen möchte, warum er immer wieder die gleichen Fehler begeht, kann ein Medikament nicht helfen.

STANDARD: Es gibt also auch Patienten, denen sie Medikamente verschreiben?

Ruhs: Selbstverständlich. Jeder psychiatrische Ansatz hat seine Berechtigung. Es geht nicht darum, miteinander zu konkurrieren. Das können wir auch nicht, weil wir zu verschieden sind. Der Polarbär und der Tiger können ja auch nicht gegeneinander kämpfen.

STANDARD: Das heißt, ich kann mir bei einer Depression eine Behandlung nach meinem Geschmack aussuchen?

Ruhs: Gerade bei der Depression stelle ich eine gewisse Inflation des Begriffs fest. Heute wird in der organisch orientierten Psychiatrie fast alles als Depression bezeichnet. Dabei wird oft übersehen, dass der Neurosengarten sehr artenreich ist. Für uns ist eine Depression oft weniger eine eigenständige Krankheit als eine Begleiterscheinung von anderen Störungen.

Pezawas: Das sehe ich ganz anders. Die Depression ist eine sehr ernst zu nehmende Krankheit, die immer noch zu selten diagnostiziert wird. Abgesehen von der erhöhten Gefahr verschiedener medizinischer Erkrankungen wie Übergewicht oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist das Risiko eines Suizids bei einer unbehandelten Depression mit mindestens zehn Prozent dramatisch erhöht. Hier sind Psychopharmaka wirklich ein Segen.

STANDARD: Was sind die Nebenwirkungen?

Pezawas: Es gibt sehr unterschiedliche Psychopharmaka. Bei Depressionen werden heute sehr häufig Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) verschrieben, die die Konzentration des Botenstoffes Serotonin im Gehirnstoffwechsel erhöhen. Diese Medikamente sind sehr gut verträglich, führen zu keiner Abhängigkeit und sind im Vergleich zu dem, was wir sonst medikamentös zu uns nehmen, vollkommen untoxisch.

STANDARD: Aus Liste der Nebenwirkungen auf dem Beipackzettel ergibt sich ein anderes Bild.

Pezawas: Weil dort aus juristischen Gründen jede unerwünschte Arzneimittelwirkung, die irgendwann aufgetreten ist, stehen muss, auch wenn sie vielleicht durch die Krankheit und nicht durch das Medikament bedingt war. Hier ist es wichtig, der Erfahrung des Arztes zu vertrauen.

Ruhs: Ich finde auch, dass die angeführten Nebenwirkungen auf den Beipackzetteln teilweise übertrieben sind. Allerdings ist die Wirkung von Medikamenten vielschichtig. Es gibt nicht nur eine organisch-biologische, sondern auch eine imaginäre Wirkung, also das, was ich mir von dem Präparat erhoffe. Außerdem gibt es eine symbolische Wirkung. Manche meiner Patienten konnten ein Medikament einfach aufgrund seines Namens nicht einnehmen, die gleiche Substanz in einem Präparat mit anderem Namen wirkte.

STANDARD: Sind Psychopharmaka gegen Depression aus Sicht der Industrie nicht auch besonders profitabel?

Ruhs: Natürlich hängt die Wahl der Mittel, wie man Menschen seelisch und körperlich beeinflusst, auch mit sozioökonomischen Bedingungen zusammen. Und im Moment ist nun einmal alles gefragt, was ökonomisch günstig ist und woraus man ein profitorientiertes Unternehmen schaffen kann. Die großen Forschungen in der Psychiatrie finden ja heute unter anderem in der Industrie und nicht an den Universitäten statt.

Pezawas: Dass Forschung industriell gesteuert ist, ist falsch. Aber natürlich gibt es bei der Häufigkeit, mit der psychische Erkrankungen auftreten, ein großes gesundheitspolitisches Interesse, die Pharmaforschung voranzutreiben. Wir würden uns allerdings auch wünschen, dass die psychotherapeutische Forschung intensiviert würde, damit Behandlungsstrategien auf evidenzbasierten Daten verglichen werden können. Im Vergleich zu anderen Disziplinen besteht für die psychiatrische Forschung Nachholbedarf. (DER STANDARD, Printausgabe, 7.8.2006)