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Der Komet des Westens läuft auf. Sodinger Spieler bahnen sich in der heimischen Glückauf-Kampfbahn ihren Weg auf das Spielfeld (1954).

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Kaum vorstellbarer Andrang bis zum Spielfeldrand.

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»1963 hatten die Fans im Stadion noch ‚She Loves You‘ gesungen und den Rest der Woche in den Docks gearbeitet. Ende der Sechziger oder Anfang der Siebziger waren sie bereits entlassen und arbeitslos. Wir sprechen hier von der Entwurzelung der Arbeiterklasse, die ihrerseits die Wurzel des Spiels war. Der Fußball macht indessen so weiter, als wäre nichts gewesen.« (Philippe Auclair, »France Football«)

Fußball sei ein Proletensport, hieß es damals, als wir aufwuchsen. Die »besseren Leute« rümpften noch skeptisch die Nase und schickten ihre Kinder lieber zum Tennis als auf den Fußballplatz. Proleten gab es damals noch, die Linke adelte sie angesichts ihrer historischen Aufgabe zu stolzen »Proletariern«. Ihre Söhne stellten die besten Kicker der Nation. Mag sich auch an der überwiegend »proletarischen« Herkunft der meisten Fußballer seither nichts geändert haben – das gesellschaftliche Gewicht und die politische Bedeutung der Arbeiterklasse ist in den letzten 20 Jahren zu einer Randnotiz verkommen. Dabei ist die Frage, wer sich noch als »Hackler« qualifiziert, nicht entscheidend.

Die Mittelschichtsgesellschaft drückte dem Fußball ebenso ihren Stempel auf wie die ständig zunehmende Kommerzialisierung. Im selben Zeitraum, in dem sich der Neoliberalismus aufmachte, noch die letzten von kapitalistischer Verwertung verschonten Enklaven zu erobern, wurden Begriffe wie »Arbeiterklasse« und »Proletariat« zu Running Gags auf Partys, wo Spätgeborene mit dem DDR-Emblem auf der Brust posierten.

Im Stadion hat sich der Begriff des Arbeitervereins ohne komische Konnotation erhalten. Weil innerhalb der Stadionmauern historische Begriffe noch eine Bedeutung haben, während sie außerhalb der Lächerlichkeit preisgegeben sind. Nicht nur die »Arbeiter« in der Kurve sind die wortgewaltigen Fürsprecher einer »proletarischen Tradition«, sondern Fangruppen, die sich zu einem guten Teil aus der Mittelschicht rekrutieren. Für sie ist der Fußball dann am schönsten, wenn er ohne kapitalistische Clownerie auskommt. Deshalb hat die Arbeiterklasse ihren Platz in der Geschichte des Fußballs nicht verloren: als konstitutives Element eines Sports, der von unten kommt.

When Saturday comes

1883 war es soweit. Im Finale des englischen FA-Cups schlug die Mannschaft des Arbeitervereins Blackburn Olympic die bürgerlichen Old Etonians mit 2:1. Die Bourgeoisie – oder besser: ihr Nachwuchs an den »Public Schools« von Eton und Cambridge – hatte das Spiel aus der Hand gegeben. Nie wieder sollten ihre Klubs ein FA-Cup-Finale erreichen, wie Dietrich Schulze-Marmeling in seiner lesenswerten Schriftensammlung »Der gezähmte Fußball« festhält.

Noch Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Eliteschüler den Ton auf den Fußballplätzen angegeben. Der Fußball war bürgerlich, weil er Freizeit beanspruchte - Freizeit und Gesundheit. Beides fehlte der Arbeiterschaft im Heimatland des Manchester-Liberalismus. »Diese bleichen, hochaufgeschossenen, engbrüstigen und hohläugigen Gespenster, an denen man jeden Augenblick vorüberkommt, diese schlaffen, kraftlosen, aller Energie unfähigen Gesichter«, beschrieb Friedrich Engels 1844 in seinem Werk »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« das vom 12-Stunden-Tag geschundene englische Industrieproletariat. Doch mit zunehmender gewerkschaftlicher Organisierung erkämpfte sich die Arbeiterklasse eine Verkürzung der Wochenarbeitszeiten und einen für den englischen Fußball auch heute noch wichtigen Zeitraum: den freien Samstagnachmittag, fortan ein fixer Termin für die proletarischen Kicker.

Die proletarische Spielweise

Mit der knapp bemessenen Freizeit eroberte der Fußball in kürzester Zeit die Arbeiterviertel. Dabei mag es paradox anmuten, dass die Schwerstarbeiter ausgerechnet ein Kraft raubendes Spiel wie Fußball zu ihrem Sport erklärten. Anscheinend gibt es aber keinen Widerspruch zwischen einer körperlich anspruchsvollen Arbeit und der physisch anstrengenden Sportart: Arbeitervereine, von Liverpool bis Schalke, haben bis zur endgültigen Einführung des Profitums immer wieder bewiesen, dass die Hackler in ihren Reihen über genügend Kondition verfügten, um am Spielfeld mitzuhalten. Vielleicht ist sogar das Gegenteil wahr: Dass einer beschwerlichen Tätigkeit in der Produktivsphäre auch eine anstrengende »Reproduktion« am besten entspricht.

Die Arbeiter brachten so einen eigenen Stil in das Spiel ein: Das englische »Kick and Rush« ist genauso ein Beleg für die proletarische Spielweise, wie die traditionelle Anlage von Mannschaften wie Rapid oder Olympique Marseille. Obwohl schon lange keiner ihrer Spieler mehr Schichten in der Fabrik oder im Hafen schieben muss, hat sich der »Kampf« und der starke physische Einsatz über ein Jahrhundert erhalten, weil dieses wichtige Identifikationsmerkmal von den Fans der Arbeitervereine laufend eingefordert wird.

Mit dem körperlich robusten Spiel alleine hätten sich die Arbeiterfußballer aber auf Dauer kaum durchsetzen können: Aufgrund der anfänglichen Unterlegenheit galten die proletarischen Kicker als Underdogs. So sprach man zum Beispiel in Wien bei hohen Niederlagen von »Arbeiterresultaten«, begründet in den teils zweistelligen Niederlagen der jungen Rapid gegen die etablierten bürgerlichen Gegner. Gegen die scheinbar übermächtigen Konkurrenten konnte man sich nur mit Spielwitz behaupten – und mit kollektiver, geschlossener Spielweise. Diese Eigenschaft ist nicht zuletzt Ergebnis der politischen Strömungen in der Arbeiterbewegung.

Ewige Amateure

So wie das Proletariat nicht die ersten Vereine und Kicker stellte, so verschlief auch ihre politische Bewegung den Beginn des Fußballsports. Oder sie stellte sich grundsätzlich gegen ihn. Als bekanntestes Beispiel dafür gilt die Politik der deutschen Sozialdemokratie, die in diesem Punkt die konservative Geisteshaltung in ihren Reihen unter Beweis stellte. Ende des 19. Jahrhunderts lud die SPD ihre Genossen lieber zu Turnübungen als auf den Fußballplatz. Turnen als »deutscher Sport« war den sozialdemokratischen Funktionären nicht so suspekt wie der ausländische Fußball, Turnen diente zur Leibesertüchtigung für den Klassenkampf.

Die Ignoranz hielt aber nicht lange: Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, gab es weitaus mehr Fußballer in den Reihen der Arbeiterbewegung als übrig gebliebene Turner. Der »Arbeiter Turn- und Sportbund« veranstaltete in Konkurrenz zum bürgerlichen Lager eine eigene Meisterschaft, doch die großen Arbeiterklubs (mit Spielern und Fans aus dem Proletariat) spielten lieber beim DFB mit, wie etwa Schalke 04 oder Fortuna Düsseldorf. Auch in Österreich wurde mit dem VAFÖ (Verein der Amateur Fußballvereine Österreichs) ein sozialdemokratisch geprägter Verband gegründet, der 1934 vom austrofaschistischen Dollfuß-Regime aufgelöst wurde.

Als Erwin Seeler, der Vater von Uwe Seeler vom proletarischen Verein Lorbeer 1906 Rothenburgsort zur bürgerlichen Victoria Hamburg wechselte, galt er fortan als »verirrter Proletarier« beim Anhang und in der Parteipresse. Natürlich war es auch der finanzielle Anreiz, der Arbeitersportler zum »Klassenverrat« bewegte. Wobei die orthodoxe Position der Sozialdemokratie zum Amateurismus ihren Anteil daran hatte, dass sich proletarische Kicker von ihr abwandten.

Die Forderung nach bezahlten Profis im Fußball ist keineswegs gleichzusetzen mit den Forderungen heutiger, überbezahlter Kicker nach Millionengagen. Denn erst der Status des Profis ermöglichte es dem Arbeiter, im Fußball mit Angehörigen der Mittel- und Oberschichten gleichzuziehen. So traten etwa in den 30er-Jahren in Argentinien die proletarischen Kicker in einen unbefristeten Streik, um als Profis anerkannt und bezahlt zu werden. Ihre Darbietungen hatten den Vereinsbossen Einiges an Geld eingebracht, das ihnen als Amateure verweigert wurde.

»Fußball, das ist unsere Prägung durch die Arbeiterklasse« (John Cleese)

Fußball ist keine Erfindung der Arbeiterbewegung, kein kulturelles Phänomen, das erst auftrat, als das moderne Industrieproletariat entstand. Aber fast. Ohne die Eroberung durch die Arbeiterklasse wäre der Fußball nicht dort, wo er heute ist: Eine gesellschaftliche Größe in beinahe jedem Land der Welt, ein Sport, der wie kein zweiter politische und soziale Konflikte widerspiegelt.

Man könnte meinen, das Bürgertum hätte nach dem Zweiten Weltkrieg schrittweise wieder die völlige Kontrolle über das Spiel zurück gewonnen. Genauso wie es gelang, die Arbeiter in den westeuropäischen Ländern allmählich mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem zu versöhnen, wurde auch der Fußball zu einem Ausdruck des »Klassenkompromisses«. Der Betrieb der Vereine läuft nach den Kriterien des Profits, Spieler wie Zuschauer ordnen sich den Weisungen des Managements unter. Viele der traditionellen Arbeiterklubs (etwa aus dem Ruhrgebiet) fristen heute ein Dasein in den unteren Ligen; Vereine, deren Identität an die Betriebe der Region geknüpft war, haben eine ähnliche Talfahrt erlebt wie die Arbeitsstätten, aus denen über lange Zeit ihre Kicker stammten.

Andere Klubs mit proletarischem Hintergrund haben den »Strukturwandel« mitgemacht und präsentieren sich heute als erfolgreiche Großklubs mit dem Nimbus eines vormals volksnahen Vereins, wie etwa Liverpool, Rapid oder Borussia Dortmund. Dabei dient vielen Anhängern das Prädikat »Arbeiterverein« nur mehr als modisches Beiwerk, während viele »linke« Fans einer hemmungslosen Romantik ohne realen Bezug anhängen. Und doch existieren in den Stadien noch heute die Nachfolger der »proletarischen Versammlungen« bei den Spielen der Arbeitervereine. Fankurven, die sich in ihrem Ritus, ihrer Kollektivität und ihrem Selbstverständnis bewusst oder unbewusst an die Arbeitermassen früherer Zeiten anlehnen. Sie bilden den Gegenpart zu den »Reichen« auf den VIP-Tribünen und lehnen betont die kommerzielle Seite des Spiels ab, den »Modernen Fußball «, der sich des Großteils seiner proletarischen Wurzeln entledigt hat.

Somit ist die Geschichte des Arbeiterfußballs auch ein Abbild des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses, in dem letztlich der Kampf um die kulturelle Hegemonie von einer Seite entschieden wurde, während die andere für viele nur mehr als Folklore taugt. Trotzdem wird es nie ganz gelingen, den Fußball ohne Proleten zu spielen. (Text: Stefan Kraft und Hans Georg Egerer, Fotos: archiv ralf piorr)