Der Blickforscher bei seiner Arbeit: Kameras, die in der Brille eingebaut sind, zeigen, wohin der Autofahrer gerade schaut

Foto: STANDARD/ viewpointsystem
Wohin schaut ein Autofahrer bei seiner Fahrt - und wohin eben nicht? Dieser Frage geht ein Unfallforscher nach, um Gefahrenzonen im Straßenverkehr zu erkennen. Mittels Spezialbrillen zeichnet er die Augen-Blicke penibelst auf.
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Wien - Wenn es scheppert und kracht, heißt es nachher allzu oft: "Ich war nur einen Augenblick abgelenkt." Und genau das ist es, was Ernst Pfleger bis in die kleinsten Sekundenbruchteile hinein erforscht: die Augen-Blicke.

Alle schauen gleich

Mit Unfallforschung beschäftigt sich Pfleger schon seit über 25 Jahren, analysierte jene Orte, an denen sich Unfälle häuften, verglich gleichartige Unfallhergänge und stieß immer wieder auf die Frage: "Warum übersehen die da etwas?" Erst als Pfleger im Zuge einer Auftragsarbeit auf einem Parcours immer wiederkehrende Situationen simulierte und das Blickverhalten der Autofahrer grob analysierte, bemerkte er: "Hoppla - die schauen ja alle gleich."

Zauberereffekt

Das, was da passiert, ist der so genannte Zauberereffekt: "Im Straßenraum spielt es sich einfach ab. Und wenn man in bestimmter Weise abgelenkt wird, übersieht man einfach das Wesentliche", sagt Pfleger. Das mag vielleicht banal klingen - doch Pfleger kann dieses Phänomen messen, analysieren - und Gegenvorschläge liefern. Die damals eingesetzten Mittel hat er im Laufe der Jahre so lange verbessert und neue Verfahren entwickelt, dass Pfleger nun als Pionier der Blickforschung erklären kann: "Wir können inzwischen schon vor einem Unfall feststellen, was falsch läuft."

Blickanalysen

Herzstück der Blickanalysen ist eine neu entwickelte Brille, auf der zwei kleine Kameras montiert sind. Eine erfasst das Blickfeld vorne - die andere zeichnet exakt die Bewegungen der Augen auf. Damit kann nun nicht nur einfach festgestellt werden, wohin ein Autofahrer, Radler oder Passant schaut - sondern es wird mithilfe der unterstützenden Computerprogramme genau analysiert: Wie lange werden welche Punkte fixiert, welche Bereiche werden scharf gesehen und wahrgenommen - und wo schweift der Blick zwischen zwei oder mehreren Fixationen und hat eine "Sakkade" - ein Blackout. "Viewpointsystem" heißt diese Analysemethode Pflegers.

Videoanalyse

Die kurze, sieben, acht Sekunden lange Videosequenz einer Ortsdurchfahrt zeigt mithilfe einer derartigen Analyse sofort auf, wo welche Gefahren lauern. Schon bei der ersten Kreuzung: Der Fahrer schaut nach links und sieht - die A-Säule seines Autos und sonst nichts. An der Strebe zum Autodach bläht sich ein Kreis auf, eine "Time-Bubble", die anzeigt, dass jener Punkt schon lange fixiert wird. Käme hier von links ein Motorradfahrer, würde es unweigerlich krachen. Dann zeigen die "Blickblasen", dass die Augen des Fahrers gegenüber an einer hellen Hauswand hängen bleiben, an einem Blumenkasten, einem Schild - während er sein Fahrzeug nach links in die Straße lenkt.

Dass im Schatten ein Passant die Straße betritt, wird erst relativ spät erfasst. Es folgt eine lange Blickbindung - der Fahrer schaut auf die Füße des Passanten, erkennt so, dass dieser nur zu seinem parkenden Auto marschiert. Der Blick ist wieder frei - und bleibt vorne rechts an einem Transporter hängen, der den freien Blick in die nächste Kurve verstellt.

Wo der Blick nicht hinkommt

In dieser Art und Weise werden die immer gleichen Gefahren der Straße offen gelegt. Dort, wo der Transporter stand, müsste eigentlich ein Halte- und Parkverbot gelten. Pfleger: "Man sieht bei derartigen Analysen sofort, wo ein Straßenbild Fixations-Dots-lastig ist." Oder anders herum: "Wenn man dort, wo keiner mit dem Blick hinkommt, ein Verkehrszeichen hinsetzt, wird es jeder übersehen." Dank Pflegers Analysen gelang es, gefährliche Unfallstellen zu entschärfen.

Blickfolgen

Für ihn ist dieses Aufzeichnen der Blickfolgen "wie ein Seismogramm der Gefährdung". Doch sein "Viewpointsystem" ist auch in ganz anderen Bereichen einsetzbar. Pfleger analysiert bei der Airport-Safety: Was wird dort bei der Gepäckskontrolle gesehen und was nicht. Und er erforscht Blicke von Lokführern.

Blickstrategien im Damen-Slalom Den wohl verblüffendsten Erfolg aber errang Pfleger auf dem Gletscher. Dort analysierte er beim österreichischen Damen-Nationalteam, wo die einzelnen Fahrerinnen beim Slalom hinschauen - oder auch nicht. So wurden Blickstrategien entwickelt und in der Folge ein paar wertvolle Tausendstel eingespart. Details verrät Pfleger nicht: "Da geht's schon um nationale Interessen." (Roman David-Freihsl, DER STANDARD Printausgabe 14.8.2006)