Israelische Bomben auf Beirut - Raketenangriffe der Hisbollah auf Haifa: der Nahostkonflikt ist wieder verstärkt aufgeflammt. - Und mit ihm auch die nur allzu oft in der Geschichte einander sich blutig ausschließenden politisch-religiös-kulturell beladenen Mythen und Ideologien. Wenn der Hisbollah-Führer Nasrallah öffentlich alle Moslems für die gerechte Sache des palästinensischen Volkes gegen Israel zum bewaffneten Kampf aufruft, dann klingt das fast wie die Botschaften des Al-Kaida-Chefs Osama Bin Laden, der sich selbst in seinem orthodoxen Alleinvertretungsanspruch der moslemischen Welt gern als "Beherrscher der Gläubigen", also als Khalif, sieht.

"Kampf um die Wahrheit von Gottes Wort"

Und wenn ein US-Senator wie der Republikaner James Inhofe aus Oklahoma vor dem Kongress erklärt, die aktuellen Konflikte im Nahen Osten seien keine politischen oder territorialen Kriege, sondern "ein Kampf um die Wahrheit von Gottes Wort", so bedient er sich - mehr oder weniger wissentlich - der Sprache der "Kreuzfahrer".

Der nach 9/11 von US-Präsident George W. Bush ausgerufene weltweite "Kampf gegen den Terror" ist vor allem ein Kampf gegen islamistische Terrornetzwerke wie Al-Kaida, deren erklärte Ziele darin bestehen, die Welt des "dar al-islam" (Gebiet des Islams) auszudehnen auf die Welt des "dar al-harb" (Gebiet des Krieges), um dieses zu "befrieden", heißt, auf ihre Weise mehr oder weniger gewaltsam zu islamisieren, wie der Islamwissenschafter Peter Heine in seinem Buch Terror in Allahs Namen darlegt.

Die Vorstellungen der Djihadisten umfassen einen geeinten islamischen Gottesstaat nach strenger, buchstabengetreuer Auslegung des Korantextes. Doch wie etwa Katajun Amipur und Ludwig Ammann als Herausgeber in ihrem Sammelband mit dem Thema Der Islam am Wendepunkt zu Recht feststellen, mögen die "family values" des Djihad-Islam zwar konservativ sein; ihre politischen Mittel, der Sturz für ungläubig erklärter Herrscher und als "Märtyreroperationen" verbrämte Selbstmordattentate auf Zivilisten, sind es nicht.

Sie verdanken sich vielmehr einer höchst innovativen Auslegung der Quellen, einem rücksichtslosen Primat der Vernunft gegenüber dem Text. Hier zeigt sich, dass dem Islam in seiner viel, viel größeren und vielschichtigeren Bandbreite - jenseits von konservativ-sunnitischem Wahhabismus und iranischem Schiitismus - die Exegese nicht wirklich fremd war und ist, wie immer wieder behauptet wird.

Auch die klassische Islamwissenschaft ging wie Katajun Amipur und Ludwig Ammann hervorheben, von einer dialektischen Beziehung zwischen Text und Adressat aus. Dabei zeige sich, wie widersinnig das Argument vieler radikaler Islamisten ist, man müsse jede Aussage des Koran wörtlich nehmen, und eine jede von ihnen sei allzeit gültig. "Der Koran ist eine Schrift zwischen zwei Buchdeckeln. Sie spricht nicht. Es sind die Menschen, die mit ihr sprechen", so die Worte des ersten Imam der Schia, Ali.

Daraus folge, dass der Korantext, wie jeder andere Text ein offener Text sei, der von vielen Denkern - ob konservativ oder liberal - einmal buchstabengetreu, einmal revolutionär, einmal progressiv interpretiert wurde und wird. Die starre Auslegung des Koran, wie sie von vielen radikalen Islamisten praktiziert wird, stellt eher ein Phänomen der Moderne dar.

Unbehagen und Zweifel

Wenn auch US-Präsident Bush betont, dass der "Kampf gegen den Terror" kein Kampf gegen die muslimische Welt und die Würde gläubiger Muslime sei, dann bleiben bei vielen großes Unbehagen und Zweifel angesichts der Bilder von Guantánamo oder Abu Ghraib. Zweifel weckten schon zuvor vor allem die totalitären Utopien der Moderne, das revolutionäre Jakobinertum, der Terror der Tugenddiktatur im Zeichen der Vernunft. Ausgerechnet diese Pathologien der entfesselten Vernunft wurden von den Vordenkern des revolutionären Islamismus im Rückgriff auf eigene Potenziale der Radikalisierung islamisiert.

Eine besondere Herausforderung stellen für westliche Gesellschaften neben den Djihadisten vor allem jene radikalislamischen Gruppen dar, die konsequent Gewalt als ein Mittel politischer Veränderung ablehnen. Dazu zählt die besonders in Zentralasien wie in Westeuropa aktive Hizb ut-Tahrir al-Islami. Die Gruppe gehe nach Meinung mancher Verfassungsschützer genau den Pfad Mohammeds zur Machtergreifung: Zuerst Rekrutierung der Anhänger, dann Islamisierung und schließlich Djihad.

Die Gruppe befinde sich derzeit in Phase 2 - also auf dem Weg zur Wiedererrichtung des Kalifats und zur Renaissance islamischer politischer Macht. Mittlerweile ist die Gruppe sowohl in Europa als auch in Nordamerika verboten, weil sie die gleichen Ziele verfolgt wie die Djihadisten.

Für die Djihadisten geht es darum, die islamische Kultur und Tradition für sich und ihre radikalisierten Ziele zu missbrauchen und quasi als "Kriegsmaschinerie" einzusetzen, die im Dienste des "Heiligen Krieges" steht. Terroristische Gewalttäter wie diese nennt Hans-Magnus Enzensberger in seinem kürzlich erschienenen Band Schreckens Männer "radikale Verlierer".

Die Ideologen Al-Kaidas wollen ein neues Denkgebäude, eine Art "geistiges Universum" errichten, in dem der Bezug auf die heiligen Texte, so wie sie diese verstehen, das zentrale Kriterium darstellt. Darin wiederum kommt dem Djihad die wichtigste Rolle zu: Er ist das eigentliche Lebensziel, das Selbstmordattentat wird als höchstes menschliches Streben hochstilisiert. Dabei argumentieren die Al-Kaida-Ideologen in erster Linie gegen die anderen Muslime.

Der Krieg innerhalb der muslimischen Gemeinschaft

So soll vorrangig ein Krieg innerhalb der muslimischen Gemeinschaft legitimiert werden. Al-Kaida versucht auf diese Weise, eine Deutungshoheit, eine Hegemonie über die anderen Strömungen in der islamischen Welt zu erlangen. Die "neue" Form des Terrorismus unterscheidet sich signifikant von herkömmlichen Varianten in einer Reihe von Aspekten - in seiner Zielsetzung und Ideologie, in der Zusammensetzung seiner Mitglieder und Anhänger, in seinen Netzwerkstrukturen, in seinem Zerstörungspotenzial sowie im Umfang und der Reichweite seiner Infrastruktur.

Diese Unterschiede und ihre Konsequenzen für die Terrorismusbekämpfung herauszuarbeiten und zu analysieren, steht unter anderem im Zentrum des jüngst erschienenen Buches von Ulrich Schneckener mit dem Titel Transnationaler Terrorismus. Oft habe der Antiterrorkrieg globale und regionale "Kollateralschäden" zur Folge, die das Terrornetzwerk Al-Kaida als Bestätigung seiner Eskalationsstrategie verstehe. Es bedarf laut Schneckener vielmehr einer analytischen De- und Rekonstruktion der Netzwerke, ihrer Bestandteile, ihrer Charakteristika und ihrer Infrastruktur, um flexible, situations- und akteursabhängige Gegenstrategien zu entwickeln.

Der iranisch-stämmige Islamwissenschafter Reza Aslan spricht in seinem hochaktuellen Buch Kein Gott außer Gott die problematischen Folgen einander ausschließender Absolutheitsansprüche im Hinblick auf die Wahrheit an. Aslan unternimmt diesbezüglich eine kritische Bestandsaufnahme von Ursprung und Entwicklung des Islam - nicht nur eine Darstellung der gegenwärtigen innermuslimischen Auseinandersetzung um die Zukunft dieses doch oft missverstandenen Glaubens. Sein Buch ist vor allem ein Plädoyer für Reformen. Und es ist seine persönliche Verteidigung des eigenen Glaubens - insbesondere gegen Ignoranz und Hass.

Es bedeutet keine Abkehr vom Islam, denn niemand könne für Gott sprechen -nicht einmal der Prophet (der über Gott spricht), so Aslan. Im Sinne einer dementsprechend umfassenden Deeskalationsstrategie muss auch die historisch bedingte, spannungsgeladene Beziehung zwischen Islam und Christentum (aber auch zum Judentum) näher beleuchtet werden. Wie die deutsche Islamwissenschafterin Ursula Spuler-Stegemann in ihrem Sammelband Feindbild Christentum im Islam - Eine Bestandsaufnahme schreibt, geht es zu allererst um die Schärfung des Realitätssinns in den wechselseitigen Begegnungen als Vorbereitung für einen Dialog - jenseits jeglicher religiöser fundamentalistischer Positionen und neuerlicher Bekehrungsversuche mehr oder weniger gewaltsamer Natur.

Jenseits der oftmals blutigen Geschichte beider Welten zwischen Kreuzzug und Djihad sollte ein ehrlicher und vorurteilsfreier Dialog die positiven Impulse dieser Beziehung in Erinnerung rufen. Dazu zählt auch, dass insbesondere die Muslime das antike griechische Erbe vor dem Vergessen retteten und damit einen wichtigen Beitrag zur Entstehung des modernen Europa geleistet haben.

Der iranischstämmige Orientalist Navid Kermani schreibt in der NZZ, es sei wichtiger, ein guter Mensch zu sein als ein guter Muslim - in Anlehnung an das Prophetenwort. Wenn Religionen gut sind, dann sind sie es nicht nur für den Gläubigen, sondern auch für die Menschen, die mit ihnen zu tun haben. Man müsse nicht fromm sein, um gut zu sein, so Kermani. (Wolfgang Taus/DER STANDARD, Printausgabe, 18. August 2006)