Klinische Psychologin Jutta Haslinger

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derStandard.at: Wie wird die Zahnbehandlungsangst klassifiziert und wie viele Menschen sind tatsächlich davon betroffen? Haslinger: Die Zahnbehandlungsangst ist als spezifische Phobie zu verstehen. Laut Studien kann man davon ausgehen, dass zwischen 12 und 15 Prozent der Bevölkerung davon betroffen sind und das in allen Gesellschaftsschichten. Im Extremfall geht das so weit, dass sich die Menschen Zähne selbst reißen, Prothesen basteln oder die Zähne selbst aufbohren.

derStandard.at: Das heißt die Menschen haben nicht nur Angst vor dem Bohrer sondern vor der ganzen Situation?

Haslinger: Das muss man einfach sehr genau untersuchen. Das kann der Bohrer sein, der Zahnarzt direkt oder die ganze Situation - das kann sehr grenzüberschreitend sein.

derStandard.at: Was weiß man über die möglichen Gründe?

Haslinger: Vielen ist unbekannt, dass die Phobie häufig bei Frauen nach sexuellem Missbrauch auftritt. Da ist der Zahnarzt ein ganz schwieriges Thema weil der Mund ja einerseits ein sexuell besetztes Organ ist und die Behandlungssituation an und für sich sehr übergriffig ist. Die Frauen fühlen sich oft dem Zahnarzt gegenüber viel ausgelieferter und ohnmächtiger, als beim Frauenarzt.

derStandard.at: Welche Ursachen gibt es noch?

Haslinger: Häufig sind es auch traumatische Erfahrungen bei früheren Zahnarztbesuchen. Da ist aber der Ausprägungsgrad meist nicht so extrem, das heißt die Personen sind auch relativ rasch zu behandeln. Die Phobie kann auch mit anderen Angsterkrankungen oder Persönlichkeitsvariablen beziehungsweise –störungen zusammenhängen. Oft sind die Gründe ein ziemliches Sammelsurium, wo man sich genau anschauen muss, wo der Hauptpunkt ist.

derStandard.at: Welche körperlichen und seelischen Symptome haben Menschen, die unter der Phobie leiden?

Haslinger: Im Prinzip alle Symptome einer Angststörung, einer normalen Phobie: Herzrasen, Schweißausbrüche, Zittern, Hyperventilieren sind typische körperliche Symptome - wie bei einer Panikattacke. Dazu kommt noch das für die Angsterkrankung sehr typische Vermeidungsverhalten, das Gefühl des Kontrollverlustes und der Hilflosigkeit. Die Tatsache, dass man bei einer Zahnbehandlung nicht reden kann, verstärkt das noch. Man hat das Gefühl sich nicht bewegen zu können, man kann nicht "Stopp" oder "Nein" sagen.

derStandard.at: In wie weit ist die Lebensqualität der Menschen, die bei Ihnen Hilfe suchen, eingeschränkt durch die Phobie?

Haslinger: Sie sind manchmal sehr extrem eingeschränkt und zwar so, dass es die Umgebung gar nicht merkt. Die Menschen trauen sich nicht mehr zu lachen, weil sie oft desolate Zähne haben und machen den Mund nicht mehr auf. Sie haben Schwierigkeiten Essen zu gehen oder einfach lustvoll in einen Apfel zu beißen. Es kommt in allen sozialen Schichten vor - enorme Schwierigkeiten haben Menschen, die im öffentlichen Leben stehen oder Vorträge halten müssen. Das ist ein sehr schambesetztes Thema. In der normalen Alltagsumgebung finden Betroffene oft wenig Verständnis dafür. Sie bekommen oft zu hören "Stell dich nicht so an" und irgendwann reden sie überhaupt nicht mehr darüber. Das ist ein sehr massives Tabuthema und das Selbstbewusstsein wird dadurch sehr eingeschränkt.

derStandard.at: Sie haben sich als Psychologin auf die Zahnarztangst spezialisiert. Wie behandeln Sie Patienten, die zu Ihnen kommen?

Haslinger: Wir machen eine ganz genaue Analyse wie die Angst entstanden ist, was die Grundlagen sind. Wichtig ist die Aufklärung, dass sie nicht alleine davon betroffen sind, sondern relativ viele. Dann finde ich die auslösenden Anteile in der Behandlungssituation heraus. Danach wird mit dem Patienten gemeinsam ein Konzept entwickelt, damit er selbst in der Behandlungssituation handlungsfähig bleibt. Er soll die Situation aktiv mitgestalten können und sich nicht ohnmächtig fühlen.

derStandard.at: Wie sieht diese aktive Mitgestaltung aus?

Haslinger: Das fängt mit der Terminvereinbarung an. Nicht jemand anderer soll den Termin ausmachen sondern der Betroffene muss lernen schon am Telefon der Sprechstundenhilfe Bescheid zu sagen: "Ich habe Angst vor dem Zahnarzt".

Danach findet das erste Gespräch mit dem Zahnarzt nicht im Behandlungsraum statt. Dann kann man der Person unterschiedliche Entspannungstechniken wie autogenes Training beibringen, der Patient soll sich einfach ablenken. Das kann auch die Erinnerung an den letzten Urlaub sein. Man kann auch eigene Musik oder eine Duftlampe mitnehmen. Da muss man individuell schauen, was am besten funktioniert.

derStandard.at: Wie sieht die Kommunikation zwischen Zahnarzt und Angstpatient aus?

Haslinger: Bei der Behandlung selbst ist es auch ganz wichtig, dass die Kommunikation mit dem Zahnarzt vorher genau geklärt ist. Der Arzt muss wissen, was dem Patienten wichtig ist und worauf er besonders achten soll. Man kann zum Beispiel ein klares Zeichen vereinbaren: wenn ich die rechte Hand hebe, heißt das Stopp. Der Patient muss sich darauf verlassen können. Damit kann man die Situation gestalten und Grenzen setzen.

Auch eine Unterbrechung der Behandlung kann nötig sein. Der Angstpatient muss lernen darüber zu kommunizieren, was er braucht. So bekommt er ein Stück Kontrolle zurück, das ist der Grundansatz. Die Angstpatienten müssen lernen, die Situation wieder mitzugestalten, handlungsfähig zu bleiben. In Ausnahmefällen begleite ich die Menschen auch, aber das Ziel muss sein, dass sie selbständig zur Behandlung gehen.

derStandard.at: Welche Erfahrungen haben Sie mit den Patienten? Gibt es auch Frustrationen?

Haslinger: Es ist grundsätzlich sehr schwierig, dass Patienten überhaupt zu mir kommen. Es ist erstens wichtig, dass sie wissen, sie sind nicht die einzigen, zweitens dass es eine Behandlungsmöglichkeit gibt. Dann muss es natürlich auch leistbar sein, weil die Krankenkasse das natürlich nicht bezahlt. Außerdem muss man auch den Mut dazu haben, das Problem anzugehen und das braucht oft Jahre davor. Ein Problem ist auch, dass die meisten Zahnärzte dieses Thema nicht interessiert.

derStandard.at: Manche Zahnärzte bieten für Angstpatienten Vollnarkosebehandlungen an.

Haslinger: Die Vollnarkose hat den Nachteil, dass die Menschen in der passiven, inaktiven Rolle bleiben. Damit ist zwar die Behandlung möglich, die viel Geld kostet, aber die nächste Behandlung ist wieder genau so problematisch. Das kann manchmal sinnvoll sein, zum Beispiel am Anfang, wenn ein kieferchirurgischer Eingriff nötig ist, weil das Gebiss so desolat ist. Das Ziel sollte aber langfristig sein, dass die Menschen nachher wieder eigenständig zum Zahnarzt gehen können und nicht wieder weitere zehn Jahre warten. Die Zahnärzte, die Vollnarkose anbieten, haben nicht notwendigerweise Talent mit Angstpatienten umzugehen. Dazu ist auch nicht jeder talentiert, das hat auch nichts mit der Qualität des Zahnarztes zu tun.

derStandard.at: Wie sieht die Behandlungssituation für Angstpatienten in Österreich aus? Haslinger: In Österreich gibt es sehr wenige Behandlungsmöglichkeiten. In anderen europäischen oder nicht-europäischen Ländern gibt es auch Spezialkliniken, zum Beispiel in den Niederlanden und in Schweden. Auch in Deutschland gibt es einige Zahnärzte mit Zusatzausbildung. Das gibt es bei uns nicht. Das sind "Steckenpferde" von einzelnen Menschen, aber das war es dann auch schon. (Das Gespräch führte Marietta Türk)