Wien – Im Laufe der Ermittlungen kristallisierte sich immer mehr heraus, dass die vor mehr als acht Jahren entführte Natascha Kampusch von ihrem mutmaßlichen Kidnapper nicht gänzlich von der Außenwelt abgeschottet worden ist. Zeugen gaben an, die junge Frau hin und wieder gesehen zu haben. Sie hat aber offenbar nie Hilfe gesucht. "Die Frau leidet an einem schweren Stockholm-Syndrom", sagte Erich Zwettler vom Bundeskriminalamt.

Bei lang andauernden Entführungen und Geiselnahmen ist wiederholt das so genannte Stockholm-Syndrom beobachtet worden. Für Außenstehende auf den ersten Blick unverständlich, entwickeln die Opfer in der lebensbedrohlichen, als ausweglos empfundenen Situation Sympathie für die Täter oder solidarisieren sich mit deren Zielen. Das Phänomen ging 1973 nach einem Banküberfall in der schwedischen Hauptstadt in die wissenschaftliche Literatur ein, als sich dort ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Geiselnehmern und Opfern entwickelt hatte.

Psychologischer Schutzmechanismus

Bei dem auch bei den Tätern zu beobachtenden Syndrom handelt es sich um einen unterbewussten psychologischen Schutzmechanismus. Vor dem Gefühl, ausgeliefert zu sein, schützen sich die Betroffenen seelisch dadurch, dass sie sich mit ihren Peinigern identifizieren. Diese Bindung kann auch nach dem Ende der Gefahr weiter bestehen. In Extremfällen stellen sich die Geiseln bei ihrer Befreiung sogar vor ihre Entführer und sehen die Polizei als Bedrohung an. (APA)