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Grafik: APA/Standard
Rennbahnweg 27 in Wien-Donaustadt: ein Gemeindebau für etwa 12.000 Menschen. Aus diesem Umfeld wurde Natascha Kampusch vor acht Jahren gewaltsam gerissen. Das spektakuläre Auftauchen der heute 18-Jährigen ist das Topthema im Gemeindebau. Da werden Kerzen für Natascha angezündet, kleine Lichter für ein Mädchen, dass in ihrem ehemaligen Umfeld bereits für tot gehalten wurde.

Das Haus des mutmaßlichen Entführers Wolfgang P. (44), der noch Mittwochnacht mit einem Sprung vor einen Zug Suizid beging, liegt gerade einmal zehn Minuten von der Rennbahnsiedlung entfernt in Strasshof an der Nordbahn. Für Natascha wurde es über Jahre zum dunklen Verlies. Langsam sickern immer mehr Details über das Martyrium der jungen Frau durch. Im Zuge der Ermittlungen am Tatort entdeckten die Fahnder in der Garage des Hauses in Strasshof Nataschas Gefängnis: In einer umgebauten Montagegrube mit ausklappbaren Bett wurde das Mädchen immer dann gesperrt, wenn Wolfgang P. das Haus verließ. Das Verlies habe laut den Ermittlern Einbauten wie Toilette und Bad.

Frühere Fluchtversuche dürften stets wegen der Angst vor dem Entführer ausgeblieben sein. Natascha musste den Nachrichtentechniker zumindest in den ersten Jahren nach ihrer Entführung stets mit "Gebieter" ansprechen. Dass es sich bei der am Mittwoch gefundenen Frau um Natascha Kampusch handelt, war bereits am Donnerstag und vor allem noch vor einem offiziellen DNA-Gutachten klar. Die 18-Jährige wies eine Narbe auf, die auch das zehnjährige Mädchen aufgewiesen hatte. Zudem war in dem Haus der Reisepass von Natascha Kampusch entdeckt worden, den sie bei ihrer Entführung bei sich hatte. Das DNA-Gutachten war nach diesen Erkenntnissen somit nur noch ein Formalakt.

"So ein Technikfreak"

In Strasshof selbst blieb das Drama über die Jahre völlig unbemerkt. Wolfgang P. wird als Eigenbrötler beschrieben, der kaum in der Gemeinde auffiel. "Als ich am Mittwoch das erste Mal das Fahndungsfoto sah, habe ich gar nicht gewusst, wer das eigentlich ist", erzählt Bürgermeister Herbert Farthofer im Gespräch mit dem Standard. Er sei "halt so ein Technikfreak gewesen und hat ständig an irgendwelchen Sachen herumgeschraubt", schildert Farthofer. Gemeinsam mit Natascha habe er den Außenseiter "aber nie gesehen". Selbst offizielle Behörden, die das Haus des Entführers im Zuge von Umbauarbeiten mehrmals besuchten, bemerkten nichts von dem Mädchen im Garagenverlies. Im April 1999 und 2004 wurde der Wasserzähler ausgetauscht, 2001 die elektrischen Neuerungen des Umbaus behördlich abgenommen. Heuer hatte Wolfgang P. einen Dachbodenausbau beantragt.

Freund Fluchthelfer

Laut Bundeskriminalamt habe Wolfgang P. nur zwei Freundschaften gepflegt. Einer dieser Bekannten wurde am Mittwoch unfreiwillig zum Fluchthelfer des 44-Jährigen. Nachdem Natascha Kampusch aus dem Haus ihres Peinigers am frühen Mittwochnachmittag flüchten konnte, fuhr P. in seinem roten BMW davon. Auf der Südosttangente konnte der Nachrichtentechniker dem Großaufgebot an Beamten vorerst entkommen. Danach parkte er seinen Wagen im Donauzentrum und rief seinen Bekannten an.

Unter dem Vorwand er sei alkoholisiert gefahren und müsse nun vor einer Polizeistreife flüchten, ließ sich Wolfgang P. von seinem Freund vom Donauzentrum abholen und in den zweiten Wiener Gemeindebezirk chauffieren, wo er sich gegen 21.00 Uhr vor einen Zug warf.

Natascha Kampusch wurde noch in der Nacht "behutsam" vom Tod des Mannes in Kenntnis gesetzt. "Er war jahrelang ihre einzige Bezugsperson", so Erich Zwettler vom Bundeskriminalamt. Eine emotionale Bindung an den Entführer könne in solchen Extremsituationen "nach meinem Wissensstand schon nach drei, vier, fünf Tagen" auftreten. "Man kann davon ausgehen, dass das in diesem Fall zutrifft."

Die 18-Jährige habe "ziemlich gefasst" auf die Todesnachricht reagiert, berichtet Zwettler. "Sie hat offenbar irgendwie damit gerechnet. Er hatte ihr gesagt: 'Lebend erwischen die mich nie'."

Viele offene Fragen

Generell gestalteten die Ermittler die Befragungen sehr vorsichtig und langsam. Die restlose Aufklärung des Falles werde daher noch einige Tage, vielleicht Wochen in Anspruch nehmen. Viele Fragen sind offen, etwa ob der 44-Jährige das Mädchen auch sexuell genötigt hat oder ob, wie behauptet wird, sich die beiden wirklich gemeinsam in der Öffentlichkeit gezeigt haben. Sicher sei, dass P. ab Frühling 2006 "offensiver und frecher geworden ist", sagte Nikolaus Koch, Landespolizeikommandant im Burgenland und Leiter der Sonderkommission zu dem Entführungsfall. Dass Natascha ihrem Peiniger entkommen konnte, dürfte an einem gelockerten Umgang mit dem Entführungsopfer gelegen sein, den Wolfgang P. in letzter Zeit an den Tag legte.

"Er war nicht mehr so vorsichtig wie am Anfang", meinte Koch. "In einem günstigen Augenblick ist sie dann hinausgelaufen", so Koch. Natascha Kampusch bliebt bis auf Weiteres in polizeilicher und psychologischer Betreuung. (Markus Rohrhofer, DER STANDARD - Printausgabe, 25. August 2006)