Wien - Natscha Kampusch hat trotz ihres achtjährigen Martyriums die Chance, ein normales Leben zu führen. Zwar habe das Mädchen in der Zeit ihrer Gefangenschaft "mit Sicherheit Schäden erlitten", doch sei mit Hilfe einer geeigneten Therapie eine Verarbeitung der schrecklichen Erlebnisse möglich, sagte der Psychiater Dr. Max Friedrich im APA-Interview.

Natascha hat in ihrer Gefangenschaft wichtige Entwicklungsschritte auf dem Weg vom Kind zur jungen Frau nicht vollziehen können. "Sie hat ihre Adoleszenz unter extremsten Bedingungen erlebt", sagte Friedrich. Konkret hätte Natascha die Entwicklung der "drei I" der Pubertät, nämlich Ich-Bildung, Identifikation und Intimität schon alleine durch ihre völlig Isolation nicht richtig durchleben können.

Normale Phänomene der Pubertät fehlten

Normale Phänomene der Pubertät wie Streit mit den Eltern, Abnabelung und das Herausbilden von neuen Beziehungsstrukturen fehlten in der Adoleszenz von Natascha völlig. Auch die langsame Entwicklung von intimen Beziehungen war durch die völlige Isolation unmöglich. Etwaige sexuelle Übergriffe hätten dem Mädchen weitere Narben in der Seele hinterlassen. Zudem dürfte Natascha an den Auswirkungen des Stockholmsyndroms leiden.

Die Leidensgeschichte von Kampusch ist im europäischen Raum einzigartig. "Uns sind nur ähnliche Berichte aus KZs bekannt, aber sogar dort gab es eine Schicksalgemeinschaft", sagte Friedrich. Die Isolation sei die schlimmste Folter, die man einem Menschen antun könne.

Prinzipiell sei es möglich, die fehlenden Entwicklungsschritte nachzuholen. "Das ist aber ein langer Weg, der behutsam gegangen werden muss", sagte der Psychiater. Besonders in der Anfangsphase sollte Natascha von einer Therapeutin behandelt werden. "Es ist wichtig, dass sie eine weibliche Identifikationsfigur hat", sagte Friedrich. Später sollte soziale Interaktion in Gruppentherapien aufgearbeitet werden.

Zuspitzung der Situation

Wie Friedrich gegenüber der APA sagte, könnte sich die symbiotische Beziehung zwischen Natascha und Wolfgang P. so verändert haben, dass die 18-Jährige die Flucht gewagt hat. "Vielleicht aus Angst, vielleicht hat sie neuen Mut gefasst", sagte der Psychiater.

Denkbar ist, dass der Täter auf Grund der Veränderung von Natascha vom leicht zu kontrollierenden Kind zur Frau mit eigenem Ich das Interesse an ihr verloren hat. Dies würde auch die Nachlässigkeit P.s in den vergangenen Monaten erklären. "Er hat sie sicherlich lange infantil gehalten, doch könnte sie einen Befreiungsschub ins Erwachsenen-Dasein vollzogen haben", sagte Friedrich.

Genau dieser Wandel in Körper und Wesen von Natascha könnte den Fantasien von Priklopils zuwidergelaufen sein. "Er hat sie kindlich imaginiert", sagte Friedrich. Für Natascha hätte dies dramatische Folgen haben können. Wäre ihr Peiniger ihrer überdrüssig geworden, wäre "auch ein Tötungsdelikt nicht ausgeschlossen gewesen", so der Psychiater.

Schwere psychische Störungen beim Täter

Der Täter dürfte selbst schwere psychische Störungen aufgewiesen haben. "Er ist zwischen magischen Denken und ödipaler Phase stecken geblieben", erklärte Friedrich. Lustgewinn würde für diese Menschen vor allem durch die Kontrolle von anderen einhergehen. "Sie fühlen sich dann wie ein Gott", so der Psychiater. Die Unauffälligkeit und Angepasstheit im Alltagsleben würde dem nicht widersprechen. "Diese Menschen führen oft ein Leben wie aus zwei völlig verschiedenen Büchern", meinte Friedrich.

Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass Wolfgang P. bis zum Tatzeitpunkt nicht einschlägig auffällig geworden ist. "Viele Täter sagen, dass sie jahrelang ihre Fantasien hatten, bevor sie sie ausgelebt haben", so Friedrich. Der Experte vermutete allerdings, dass Wolfgang P. Natascha gekannt haben muss. "Vielleicht hat sich einfach eine gute Gelegenheit ergeben", so der Psychiater. (APA)