Über die künftige Behandlung und Betreuung von Natascha Kampusch könne nur eine einzige Person entscheiden, betont der Kinderpsychiater Ernst Berger: "Natascha Kampusch selbst." Die 18-jährige junge Frau, der nach acht Jahren Einkerkerung in einem engen Kellerraum vor zwei Tagen die Flucht vor ihrem Peiniger gelang, sei "volljährig" und in vollem Umfang mündig. Also werde "kein Schritt, keine Maßnahme ohne ihr Einverständnis geschehen".

Berger weiß genau, wovon er spricht. Seit Donnerstag ist er Leiter eines mehrköpfigen Betreuungsteams, das sich in Auftrag der Stadt Wien - konkret des Wiener Psychosozialen Dienstes (PSD) - um das langjährige Entführungsopfer kümmern wird. Am Mittwoch - also unmittelbar nach ihrer Flucht habe Natascha Kampusch bereits den Wunsch geäußert, mit dem Verein Weißer Ring, der sich um Hilfe für Opfer von Kriminalität kümmert, in Kontakt zu treten. Den Namen des Vereins habe die junge Frau noch aus der Zeit vor ihrer Entführung in Erinnerung gehabt.

Multiprofessionell

Daraufhin habe sich der Weiße Ring mit Monika Pinterits von der Wiener Kinder- und Jugendanwaltschaft in Verbindung gesetzt, die sich wiederum mit dem PSD-Leiter Stephan Rudas kurzgeschlossen habe: "In Fällen von akutem Betreuungsbedarf ist es der psychosoziale State of the Art, sich multiprofessionell um den Betroffenen zu kümmern", erläutert Berger. Das gelte zum Beispiel, "wenn Kinder oder Jugendliche in eine akute Krise geraten", aber ebenso für "dramatische Situationen wie diese".

Um Natascha Kampusch werden bis auf Weiteres also Berger, Pinterits sowie mehrere Psychologen, Sozialpädagogen und Sozialarbeiter bemüht sein. Auf Kosten der Stadt Wien, die solche Interventionsteams als Akutbetreuung finanziert. In der "ersten, akuten Phase" wird darüber hinaus der Kinderpsychiater Max Friedrich die Oberaufsicht über die Behandlung haben: Das verkündete am Freitag Innenministerin Liese Prokop (ÖVP).

Auch in anderen Bundesländern - etwa in Niederösterreich - existiert diese Art der Akutintervention, wenn auch - wie der dortige Patientenanwalt Gerald Bachinger anmerkt - "erst seit wenigen Jahren und ohne dass Betroffenen ein verbrieftes Recht darauf haben".

"Sehr kluge Frau"

Berger hat mit Natascha Kampusch auch bereits persönlich gesprochen: am Donnerstag, bei der Polizei. Er habe eine "sehr kluge junge Frau" kennen gelernt, die sich in einem "erstaunlich guten Zustand" befunden habe. Einem Zustand, der auf dem ersten Blick nicht erkennbar gemacht habe, "dass sie eine acht Jahre lange Isolation hinter sich hat".

Die "sehr guten kognitiven Fähigkeiten hätten der 18-Jährigen während ihrer Gefangenschaft "wohl auch sehr geholfen" - um zu Überleben. Den Wunsch zur Flucht vor ihrem Peiniger Wolfgang P. habe sie die Jahre offenbar niemals aufgegeben. Auch wenn sich zwischen ihr und dem Mann zeitweise wohl "eine Art Nebeneinander" ergeben habe und der Kerker, in dem P. sie eingesperrt hatte, "teilweise Jugendzimmercharakter" aufgewiesen habe.

Betreute Wohnung

Nach nur einer Unterredung mit Natascha Kampusch traut sich Berger nicht vorauszusagen, welche Art von Betreuung und Behandlung die Patientin brauchen wird. Eine "Rund-um-die-Uhr-Betreuung ", wie sie Maria K., die bis zum Jahr 1996 von ihren Adoptiveltern zeitweise in einem Sarg gefangen gehalten worden war, werde es "wahrscheinlich nicht sein". Auch Maria K. war von einem Wiener PSD-Team behandelt worden. Und zwar, da es ihr anfangs psychisch sehr schlecht ging, in einer eigens zur Verfügung gestellten Wohnung ein halbes Jahr lang von sechs bis sieben Experten.

Für Natascha Kampusch sei eine betreute Wohnung ebenfalls eine Option, erläutert der Experte - aber nicht die einzig mögliche. Letztendlich sei aber die Frage, ob die Behandlung "zentralisiert oder dezentralisiert" vor sich gehen werde, "sekundär". Wichtig sei nur, dass es sie geben werde.

Schulbildung noch nicht geklärt

Zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht denken will indes PSD-Leiter Rudas an die Frage der Schulbildung für das Mädchen, das seit acht Jahren keinen regulären Unterricht besucht hat. "Es gibt Fragen, die gleich und Fragen, die erst später beantwortet werden können. Diese junge Frau hat Erlebnisse hinter sich, deren Folgen noch nicht beurteilt werden können".

Derzeit - so Rudas - gehe es um "die diagnostische Abklärung" bei Natascha Kampusch, betont Rudas. Für die Ausbildungsfrage werde man beizeiten Lösungen finden müssen. (Irene Brickner, DER STANDARD Printausgabe, 26./27.08.2006)