Im Prinzip hab ich nicht das Gefühl, dass mir etwas entgangen ist. Ich hab mir so manches erspart, nicht mit Rauchen und Trinken zu beginnen und keine schlechten Freunde gehabt zu haben." Solch Selbstbewusstsein muss die Öffentlichkeit vor den Kopf stoßen. Eine Öffentlichkeit, die sich um das Wunschbild von der Bestie und dem unschuldigen Mädchenleib betrogen fühlt und folglich das Objekt ihrer Begierden mit der Psycho-Floskel vom Stockholm-Syndrom entmündigt. Muss man sich tatsächlich durch Kidnapping dem schädigenden Einfluss einer solchen Welt entziehen lassen, um diese Charakterstärke auszubilden?

Voyeurismus und Informationsauftrag

Natascha Kampusch hat sich zu früh gefreut: Die schlechten Freunde wetzen bereits die Zähne, die Ratten schlüpfen in Legionen schon aus den Redaktionslöchern und die Geier kreisen hungrig über ihrem Versteck im Burgenland. Ein undenkbarer Verstoß gegen die Gesetze des Mediengeschäfts wäre es, wenn Wolfgang Fellner kein Kopfgeld für das Jus primae Noctis aussetzen würde, um mit ihren O-Tönen die Nullnummer seines "Österreich" zu zieren. Dabei ist der Fall geklärt. Was gibt es denn noch zu wissen? Der Täter hat sich durch Selbstmord dem Volkszorn künftiger Mithäftlinge entzogen - und dem nicht minder unangenehmen Schicksal, nach zehn Jahren Haft sein Auskommen als Bestsellerautor und reumütiger Talkshowgast zu fristen. Natascha Kampusch ist - noch - in Sicherheit.

Wäre man wirklich so einfühlsam, wie man tut, könnte man mit Erleichterung zur Tagesordnung zurückkehren. Doch irgendwas raunt und grollt und knurrt in den Mägen - der Hunger ist noch nicht gestillt. Denn das Wichtigste fehlt, das Corpus Delicti selbst, in dessen Seele herumzufingerln die stille Komplizenschaft zwischen Voyeurismus und Verwertungszwang, zwischen Mob und Medien gebietet. "Informationsauftrag" nennen das die Medien, die gemeinsam mit der Polizei ein Gesetz nach dem anderen brechen, indem sie unbefugt Kindheitsfotos veröffentlichen, ohne Beweise von sexuellem Missbrauch faseln und jedes Plüschtier aus Kampuschs Jugendzimmer, dem "Verlies", weil das größte Plüschtier ihnen und ihrem Entführer entwischte, in der Öffentlichkeit herumreichen.

Mama und Papa mit Bissspuren des journalistischen Vampirismus

Was hat er ihr angetan? Und vor allem, wie hat er es ihr angetan? Und was für eine Figur hat sie heute und - wie um alles in der Welt - kann sie gebildeter sein als wir, die wir nie entführt wurden? Ehe diese Fragen nicht beantwortet sind, wird es keine Ruhe geben. Die Eltern des Opfers beschweren sich, dass ein weitsichtiges Team aus Psychologen und Jugendanwälten ihre Tochter vor ihnen abschirmt. Das hat seinen guten Grund, denn dem aufmerksamen Auge dürften die Bissspuren des journalistischen Vampirismus an den Hälsen von Mama und Papa nicht entgangen sein, als diese mit dem goldumrahmten Computerbild der zur Frau gepixelten Natascha vor den Pressekameras posierten.

Verständnis für das öffentliche Interesse

Doch dann geschah das Unfassbare: Das erste Mal in der Geschichte der medialen Verblutwurstung trat das Opfer der Meute entgegen - mutig und gelassen, und ließ eine Erklärung verlesen, die in ihrer Prägnanz, Klugheit und charakterlichen Reife die Vampire zurückweichen ließ wie vor dem Kruzifix. Alles, was ihr euch einbildet, ist unwahr, ich will mit euch nicht reden und jedes Eindringen in meine Intimsphäre werde ich ahnden, lautet der Grundtenor dieses wunderbaren Stücks Literatur. Bevor sie die Peitsche jedoch schnalzen lässt, äußert Natascha Kampusch Verständnis für das öffentliche Interesse, allerdings in jenem ruhigen, überlegenen Ton, mit dem Psychologen zu psychisch Kranken zu sprechen pflegen - die Öffentlichkeit wird ihr die Umdrehung des therapeutischen Machtverhältnisses von Objekt und Subjekt wohl nicht verzeihen.

Weigerung, sich zur Ware machen zu lassen

Es tut nichts zur Sache, inwiefern die Jugendanwältin Monika Pinterits ihr dabei die Feder geführt hat, aus allen Zeilen spricht Frau Kampuschs aufrechter Wille. Frau Pinterits, ein beherzter Van Helsing und Natascha Kampuschs wohl einzige Freundin in dieser Stunde, weiß besser als alle, in welcher Gefahr die 18-Jährige seit ihrer Selbstbefreiung schwebt. Mit ihrer Erklärung aber hat Natascha Kampusch, deren Schicksal auf CNN den Libanonkrieg aus den Schlagzeilen verdrängte, den Medien ihre Unabhängigkeit - und wider Willen den Krieg erklärt. Denn die Meute heult lauter als zuvor. Nicht nur, weil sie die Beute nicht zu fassen kriegt. Es geht ums Prinzip: Die Weigerung, sich zur Ware machen zu lassen, muss bestraft werden, der Präzedenzfall eines zivilen Ungehorsams gegen die Infotrusts und die noch blutdürstigeren Infogreißler im Keim erstickt werden.

Kopfgeldjäger

Die Generalmobilmachung lässt nicht auf sich warten. Kein Verlies dieser Welt kann zu abgelegen, keine Stahltür zu dick sein, um sie vor den Kopfgeldjägern der Meinungsbildung zu schützen. Mit den verständnisvollen Blicken von Talkmasterinnen und der salbungsvollen Einfühlsamkeit von TV-Psychologen wird die Verwertungsmaschine sie so lange zermürben, bis das Werk vollendet ist, bis die, deren Seelen nicht einmal Verliese ausfüllen könnten, sich an Größe und Zerbrechlichkeit ihrer Seele sattgetrunken, und die, die diese Orgie organisieren, ihre Quoten und Umsätze erreicht haben.

Es sei Natascha Kampusch alle Kraft dieser Welt gewünscht, der hungrigen Maschine zu widerstehen, und dass sie, wenn dereinst sie mit Würde kapituliert, keinem weiteren Stockholm-Syndrom erliegt - jenen gegenüber, die sie auf Händen tragen und mit Füßen treten werden. (DER STANDARD Printausgabe 30.8.2006)