Als ich kürzlich in Mazedonien unterwegs war, traf ich auf einen jungen Akademiker, der mir erklärte, warum die Europäische Union ein Kartell von Betrügern sei. Ich war nach Mazedonien gekommen, weil ich die Dörfer und Städte der Aromunen besuchen wollte, eines Volkes, das in acht verschiedenen Staaten lebt und das es doch amtlich nirgendwo gibt. Am ehesten noch in Rumänien und eben in Mazedonien, wo sie zwar auch nicht als Minderheit anerkannt sind, genießen die Aromunen - oder Vlachen, Wlassi, Zinzaren, wie sie auch genannt werden - immerhin rudimentäre kulturelle Rechte. Aber das ist eine andere Geschichte.
Stefano Guda jedenfalls ist zugleich ein aromunischer Intellektueller und ein erfolgreicher mazedonischer Unternehmer. Solche Identitäten, die sich nicht aus dem Zwang zur ethnischen Abgrenzung bilden, sondern vielfache Übergänge ermöglichen, gibt es, und vielleicht liegt gerade in ihnen die Zukunft Europas, nicht nur in Skopje oder London, sondern, Gott behüte, sogar in Detmold und in Wien.
Dieser junge Mann, der außer seiner romanischen Mutter- und der slawischen Staatssprache noch ausgezeichnet Griechisch, Englisch, Französisch, Italienisch spricht, legte mir dar, wie die EU in sein Leben eingegriffen, seine private Existenz beschädigt und sein geschäftliches Fortkommen beeinträchtigt hat. In seiner Jugend war Stefano so wie Millionen junger Holländer und Dänen, Deutscher und Franzosen in Europa unterwegs gewesen. Er ist nach Amsterdam getrampt, durch das Salzkammergut gekommen und im schönen Genf über die Preise erstaunt gewesen. Jetzt ist er 35, und an die Stätten zu gelangen, die er einst ohne Geld in der Tasche besichtigen konnte, ist ihm heute, da er ein wohlhabender Mann geworden ist, nahezu unmöglich.
Solange die EU, die die Grenzen in ihrem Inneren aufgehoben hat, noch nicht existierte, war Europa für ihn nämlich ein Kontinent mit durchlässigen Grenzen gewesen. Kaum aber, dass sich die EU zur grenzenlosen Zollfreihandelszone erklärte, war für ihn Schluss mit der Freiheit des Reisens. Tatsächlich gibt es ein anderes, das ausgesperrte Europa, für deren Bewohner die Freizügigkeit zu Ende ging, just als sie in jenem Teil des Kontinents, der sich gemeinhin mit Wohlstand, Kultur und Zivilisation in eins setzt, als Recht eines jeden Einzelnen proklamiert wurde.
Wenn er aus dem einen in den anderen Teil Europas gelangen will, muss er sich jetzt nicht nur in die langen Schlangen von Leuten einreihen, die ein paar Tage vor den Konsulaten anstehen, um dann wochenlang auf die Genehmigung zur Überquerung der Schengen-Grenzen zu warten; er braucht vielmehr auch Erklärungen von Geschäftspartnern oder Freunden aus der EU, dass sie im Krankheitsfalle dafür sorgen werden, dass er keinem Staat der EU einen Groschen, Pardon: Cent kosten wird.
Dabei, sagt Stefano Guda, bin ich kein Krimineller. Aber da irrt er natürlich, denn Osteuropäer zu sein ist zweifellos eine Vorstrafe; das neue österreichische Schleppergesetz trägt diesem Tatbestand auch konsequent Rechnung und kriminalisiert mit den kommerziellen Schlepperbanden gleich die Angehörigen jener Europäer, die im falschen Teil Europas geboren wurden und illegal in den richtigen einzudringen versuchen. Dem Gesetz gilt der Schlepper, der aus Geldgier Leute im versperrten Anhänger über die Grenze schafft, gleich viel wie der Flüchtling, der seine Kinder auf illegale Weise nachholen möchte, da er es auf legale nicht darf.
Nun wird mancher einwenden, das sei halt ein Problem, das sich mit der Osterweiterung der EU bald lösen werde. Aber diese Hoffnung trügt. Mazedonien beispielsweise ist in der Warteschleife der Beitragskandidaten unlängst wieder ganz an den Anfang zurückverwiesen worden. Die Republik müsse erst der albanischen Volksgruppe das Recht auf eine eigene Universität gewähren, ehe man mit ihr überhaupt in irgendwelche Vorverhandlungen trete.
Dass die osteuropäischen Staaten, die in die Union drängen, zuvor auf einen Schutz ihrer nationalen Minderheiten verpflichtet werden, halte ich für eine ausgezeichnete Sache. Nur weiß ich nicht recht weiter, wenn mein mazedonischer Freund über den merkwürdigen Widerspruch aufgeklärt werden möchte, dass zwar Mazedonien, das nicht der EU angehört, seine rechtlich längst anerkannte albanische Minderheit fördern solle, das EU-Mitglied Griechenland aber seine slawisch-mazedonische wie seine romanisch-vlachische Minderheit nicht nur nicht zu fördern, sondern nicht einmal in ihrer Existenz anzuerkennen braucht? Und das, obwohl alleine die Vlachen mehrere Hunderttausend Menschen in Griechenland zählen!
Dass die EU im eigenen Bereich getrost Rechte verweigern darf, die zu erfüllen sie mit moralischer Entrüstung andere nötigt, ist den Politikern, die sich periodisch an ihren humanistischen Phrasen berauschen, im nüchternen Zustand durchaus bewusst. Auch die "Parlamentarische Versammlung des Europarats" hat schon mehrfach, zuletzt geradezu dramatisch in der Resolution Nr. 1333 aus dem Jahr 1997, bezüglich der Aromunen auf diesen Sachverhalt hingewiesen. Aber was die einen Kommissionen, die mehr für schöngeistige Dinge wie die Rechte von Minderheiten, die Gleichberechtigung von Frauen oder den Umweltschutz zuständig sind, verlangen, ficht die anderen, in denen es um die wichtigen Dinge geht, nicht an.
Das alles hat auch mit Österreich zu tun, und darum erzähle ich diese Geschichte hier. Dass zwischen Österreich und den anderen vierzehn Staaten der EU ein Streit ausgebrochen ist, hat sich auch bis ins hinterste mazedonische Dorf durchgesprochen und dort allenthalben Staunen hervorgerufen. Von Mazedonien, von einem der ausgesperrten Länder Europas, aus besehen, hatte Österreich in den letzten Jahren nämlich keineswegs den Eindruck eines ungezogenen Bengels, sondern geradezu des übereifrigen Musterknaben der Union gemacht.
Natürlich kommen Menschen, die aus dem Balkan in das Reichsgebiet der Union einzureisen versuchen, häufiger an den Grenzen Österreichs als denen Schwedens zu stehen, und wenn sie dabei die Integration Europas vornehmlich als Teilung Europas erleben, dann machen sie eine Erfahrung, die für sie unauflöslich mit Österreich verbunden bleiben wird.
Nun aber sind drei Dinge zusammengekommen. Erstens ist Österreich bei seinem Beitritt zur Union von dieser beauftragt worden, den Grenzwächter gen Osten abzugeben und so etwas wie eine elektronisch gesicherte Grenzmark zu bilden.
Zweitens ist Österreich bereits unter der letzten Regierung diesem Amt, die unliebsamen Europäer (und, natürlich, die außereuropäischen Hungerleider) von der Europäischen Union abzuhalten, mit solcher Verbissenheit nachgekommen, dass es manchen Partner innerhalb der EU schon unangenehm berührte; die aufgeklärten Strategen der Union hätten es lieber gesehen, Österreich würde seine Aufgabe noch effizienter, aber weniger leidenschaftlich erledigt und die unerwünschten Ausländer ohne Aufwallungen von Ausländerfeindlichkeit vor die Tore der Union expediert haben.
Wirklich spannend wurde es jedoch, als, drittens, etwas Unerwartetes geschah. Als die FPÖ, die tatsächlich einen brachialen Sonderfall von Xenophobie vorstellt, zur Regierungspartei wurde, ist in den EU-Partnern, die Österreich vordem zum Grenzwächter degradierten, die Besorgnis über die politische Entwicklung hierzulande erwacht. In dieser Besorgnis, die sich in den Sanktionen gegen Österreich manifestierte, liegen eine Gefahr und eine Chance dicht beieinander.
Die Gefahr ist, dass die Union sich in der Österreich-Schelte darüber hinwegschwindelt, dass sie selber es ist, die Ausgrenzung praktiziert und in vielen Regionen auch Ausländerfeindlichkeit produziert; die Gefahr ist, dass die EU zwar Österreich ermahnt, sich endlich kritisch seiner Vergangenheit zu stellen, sich aber im nimmermüden Geschwafel von den "europäischen Werten" gleichzeitig die eigene, die ebenso notwendige Auseinandersetzung mit der europäischen Vergangenheit schlicht erspart. Oder hätte, wenn die Herren Minister und Präsidenten weihevoll diese Werte beschworen, auch nur einer damit beispielsweise die guteuropäische Tradition des Kolonialismus und den ureuropäischen Wert der Raffgier gemeint? Kurz, die Gefahr ist, dass die EU, indem sie Österreich des Verstoßes gegen einen vagen "Wertekanon" überführt, nichts anderes als eine Selbstheiligsprechung vollzieht.
Aber nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance liegt darin, dass die 14 Staaten der EU sich offenbar ein wenig unbedacht darauf eingelassen haben, ihre Zollfreihandelszone als "Wertegemeinschaft" zu deuten und Österreich wegen flagranten Verstoßes gegen die gemeinsamen Werte unter Beobachtung zu stellen. Es müsste der Verstoß gegen bestimmte Werte nur einmal dazu führen, dass diese Werte selbst unter Beobachtung kämen und man so herausfände, was sie im Einzelnen seien, wozu sie bisher dienten und wer sich zu welchem Zwecke wann auf sie berief.
Die ganze schöne Kritik an Österreich, so berechtigt sie ist, taugt also nur etwas, wenn sie den Anlass zu einer europäischen Selbstkritik abgibt. Es werden die 14 der EU aber lieber die Sanktionen gegen Österreich wieder aufheben, als sich ernsthaft zu einer überfälligen Auseinandersetzung mit den "europäischen Werten" und der Blutspur, die diese durch die Geschichte zogen, zu bequemen.
Überhaupt sehe ich niemanden, auch nicht bei unseren Grünen, der eine solche europäische Selbstkritik noch im Sinne hätte. Im Gegenteil, der Aufstieg der Freiheitlichen hat bei den Gegnern der Regierungskoalition zu einem Konformismus geführt, der sich eine Kritik an "Europa", an den "europäischen Werten" gar nicht mehr zu erlauben wagt.
Als hätte die FPÖ mit ihren Ausfällen gegen die EU allen die Schneid abgekauft, sucht jetzt ein jeder seinen Platz im "Komitee zur Untersuchung antieuropäischer Umtriebe" einzunehmen und den anderen in beflissenen Bekundungen von "Europareife" und "Europatreue" zu übertrumpfen.
Worum es in diesem Konflikt geht, ist meinem mazedonischen Freund übrigens nur schwer zu vermitteln: So wie er die EU kennen gelernt hat, hält er die politische Entwicklung in Österreich gerade jetzt für durchaus europäisch.
Karl-Markus Gauß lebt als Schriftsteller und Essayist in Salzburg.