Oswald Wiener schreibt heute Essays - und bekämpft die Gemütlichkeit.

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Ronald Pohl

Graz - Gewisse Formen der Dichtung - es sind gewiss nicht die von vornherein unwichtigsten - scheinen dazu angetan, den Begriff "Literatur" als dümmliches, nichts sagendes Bequemlichkeitswort zu erweisen. Literatur, wie sie der Wiener Autor, Philosoph und naturwissenschaftliche Essayist Oswald Wiener (71) gerade nicht betreibt, fristet ein ungerührtes Dasein als antiquierte Sammeltonne, in die blindlings alles Eingang findet, was sich - zur Not - im weitesten Sinn als "fiktional" eitkettieren lässt.

Dass es aber gerade mit den Beschreibungen von Welt eine echte "Not" haben könnte, diese Einsicht hat Wiener nicht erst in seinem bahnbrechenden Antiroman die verbesserung von mitteleuropa (1969) überzeugend zur Geltung gebracht. Jedes gewöhnliche Amtsformular, dessen gewissenhafte Ausstellung uns den Status als "Individuum" verbürgen hilft, ist bereits ein Übergriff auf uns als (potenziell) kognitive Wesen. Hunderttausende Deutungsangebote, bis zur Unkenntlichkeit als wissenschaftliche "Erkenntnisse" verbrämt und in die entsprechenden immer gleichen Zeichenfolgen gegossen, konkurrieren lebhaft um unsere beiläufige Zustimmung.

Damit, sagt Wiener, der intellektuelle Kopf der legendären "Wiener Gruppe", ist weniger als nichts gewonnen. Die Wissenschaften, und gerade solche des "Geistes", würgen schwer an ihrer Inkompentenz - ihre Beschreibungsversuche sind gesellschaftlich zustandsgebundene Formbehelfe, die den wahrhaft "freien" Geist mit ihren schlecht verhohlenen Autoritätsanmaßungen düpieren und regelrecht unterfordern. Überhaupt gilt: Wer vermeint, die Hürden der Sprache überspringen zu können, landet auf der Nase: "ich aber bin der einzelne fall", sagt Wiener, vollgepumpt mit den spielerischen Erkenntnissen seines 1964 per Suizid aus dem Leben geschiedenen Dichterfreundes Konrad Bayer. Wer Wittgenstein sagt, muss wenigstens den Solipsismus denken können: Die Grenzen meiner Sprache bezeichnen die Grenzen jener Anforderungen, die ich an die Welt als ihr gewiefter Manipulator stelle.

Mehr Kybernetik!

In Wieners Denken sickern folgerichtig die verworfenen Stoffe einer von Grund auf umzukrempelnden Literatur ein: Einsichten der Kybernetik, der Informationstheorie, des Dadaismus als Lebensvollzug. Zusehends nimmt Wiener, aus Broterwerbsgründen Computerexperte der Olivetti-Niederlassung in Wien, Bezug auf die Theoriebildung "künstlicher Intelligenz". Was wir als Daten verarbeitende Wesen den Computern voraushaben, bezeichnet nichts als unseren "menschlichen" Mangel, abgespeicherte Sinnesdaten entsprechend zu prozessualisieren.

Nimmt es da noch Wunder, dass Wiener sich seit bald drei Jahrzehnten vom Literaturbetrieb abgewendet hat, um in gelegentlichen Texten von der schönen neuen kybernetischen Welt zu träumen? Der Anarchist, der bereits in Alaska saß, um von der sicheren Warte seiner Blockhüte aus den gemeinen Braunbären als intelligibles Wesen wahrzunehmen, ist der lebende Widerspruch zu einer (heimischen) Lebenswelt, die ihre genuin literarischen Traditionsbezüge zugunsten erzählerischer Wohlfühllaunen verramscht und verwahrlost. Den "manuskripte"-Preis des Landes Steiermark hätte Wiener bereits vor 40 Jahren bekommen können . So erhält er ihn eben Mittwoch Abend (13.9.), 19 Uhr, in der Grazer Burg. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.9.2006)