Politologen, Meinungsforscher und Journalisten gehören derzeit zu den gefragtesten Auskunftspersonen: Wie wird die Nationalratswahl enden? Passanten wollen das ebenso wissen wie Botschafter, Kellner genauso wie Schauspieldirektoren. Tausende Österreicher sind beim privaten oder beruflichen Resultate-Raten engagiert. Das Wahltoto ist momentan das beliebteste Glücksspiel.

Spielerische Aspekte hat auch die Interpretation via Website. Über 40.000 Zugriffe haben die ersten Debatten jeweils auf derStandard.at gebracht. 18.000 immer noch der Einschlaf-Thriller zwischen Bartenstein und Westenthaler. Noch nie waren bei einem Wahlkampf so viele Blogs, Chats und Postings unterwegs - Stil- und Mitteilungsformen des Internet-Verkehrs, die zum ersten Mal, seit es Wahlkämpfe gibt, auch ein Entscheidungsfaktor sein könnten. Die Auseinandersetzung verlegt sich dadurch stärker auf die virtuelle Ebene.

Noch nie hat es auch so viele Fernsehdebatten gegeben. Inklusive Sommergesprächen werden wir jetzt schon seit Mitte August mit den immer gleicheren Schauspielstücken und Rhetoriklektionen der politischen Kaste berieselt oder begossen.

Neben der chattenden Internet-Community sind weitere Unterschiede zu früher bemerkenswert.

1. Nicht der ORF bestimmt, wer die Parteilager vertritt, sondern die Parteiführungen selbst.

2. Die Moderatorinnen werden entweder zurückgedrängt, geschuriglt oder in die Rolle einer Stichwortpartnerin versetzt. Ingrid Thurnher beispielsweise wehrt sich - mit wenig Erfolg.

3. Zwar tingeln die Spitzenkandidaten nach wie vor durch die Lande - aber etwas sparsamer und gezielter. Der TV-Auftritt wird wichtiger, der Hupf-ins-Dorf-Event verliert an Bedeutung.

Ungefähr zur Halbzeit der heißen Wahlkampfphase lässt sich folgende Bilanz ziehen.

Wolfgang Schüssel präsentiert sich als der gelassene, lächelnde Regierungschef, der weitere Jahre auf dem Ballhausplatz als selbstverständlich betrachtet. Alfred Gusenbauer ist kämpferisch, wie es sich für einen Herausforderer gehört. Aber er übt sich auch im breiten Lächeln und exakten Zählen.

Im gespaltenen freiheitlichen Lager wirkt Herbert Scheibner wie ein junger Großvater, der sich über ungestüme Enkel ärgert: oft über-zogen Strache, wirklich unartig Westenthaler. Aber "ich kann nicht über den Tisch springen und ihm den Mund zuhalten", sagt Ingrid Thurnher im Standard-Interview. Sie kann ihn auch nicht mit einer Wasserpistole anspritzen, weshalb man - beispielsweise - eine Jury engagieren könnte, die Schlecht- und Gutpunkte vergibt. Am Ende der Debatte steht eine Wertung wie beim Eiskunstlauf.

Was uns zu den Prognosen führt. der Standard hat diesmal keine eigenen Umfragen in Auftrag gegeben, weil die Schwankungsbreite groß ist und die stärksten Parteien - so gesehen - relativ knapp bei- einander liegen. Was Sie in den Zeitungen lesen, sind meistens interpretierte Hochrechnungen. Die "Rohdaten", also Bekenntnisse ohne Zuordnung Unentschiedener, werden meist nicht publiziert.

Weshalb Umfragen vor allem der Befriedigung der Neugier dienen und nicht viel über das wirkliche Ergebnis aussagen. Also auch hier: wenig Fakten, viel Unterhaltung.

Umso erstaunlicher manche Printmedien, die von der SPÖ behaupten, ihre Chancen seien im Schwinden, obwohl sie gegenüber ihrem Ergebnis von 2002 wen iger zurückliegt, als die "davonziehende" ÖVP, die konstant drei bis vier Prozent unter ihrem Siegresultat vor vier Jahren rangiert. Lauter Schulbeispiele, wie man mit Worten die Realität präpariert.

Die Wirklichkeit: Die ÖVP kann auf 42 oder 43 Prozent kommen und genauso bei 36 bis 38 Prozent hängen bleiben. Die SPÖ kann 40 Prozent machen, aber auch auf 33 bis 34 abstürzen.

Was das in Mandaten heißt, hängt von der Zahl der Parteien im Nationalrat ab. Verlierer können Gewinner sein. (DER STANDARD, Print, 14.9.2006)