In Vernagt warten die Schafe, dicht gedrängt, auf die letzte Etappe zurück zum heimischen Bauernhof.

Foto: Hannes Schlosser
Ein einziger Hirte betreut bis zu 2000 Tiere. Im September geht es zurück in Richtung Stall und Schur.

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Vent/Vernagt - Sonntagabend wurden die Schafe in einem fast kreisrunden Pferch mit 50 Metern Durchmesser unter der Martin-Busch-Hütte zusammengetrieben. Es ist ein buntes Bild, das sich auf 2500 Metern Seehöhe oberhalb von Vent bietet, denn jeder Bauer hat seine Tiere mit eigenen Symbolen gekennzeichnet. Am nächsten Morgen um sieben Uhr früh, noch bevor die Sonne das weite, karge Tal erreicht hat, beginnt der beschwerliche Rückweg. Ein breiter Zug, begleitetet von 27 Treibern und einigen Hunden. Die Schafe werden ihrem Ruf als friedliche und fügsame Tiere gerecht. Einige wenige Tage alte Lämmer, werden von Treibern in hölzernen Kraxen auf dem Buckel getragen. Stefan Götsch, der Obmann der Schafbauern, ist mit dem Almsommer zufrieden, einzig der mehrfach verschneite August sei mühsam gewesen.

Nach einer Stunde am Rande des Niederjochferners gibt es die erste Rast. Die meisten Schafe kennen den Weg, bis zu zehn Sommer verbringen sie dort, erzählt ein Treiber. Es hätten sich schon vor dem Schaftrieb Mitte Juni Tiere selbstständig auf den Weg ins Sommerquartier gemacht.

In Reih und Glied

Über den Gletscher unterhalb der Similaunhütte ziehen die Schafe, dicht aufgefädelt in einer Reihe, begleitet von vielstimmigem Geblöke und dem Gebimmel der Glocken an ihren Hälsen. Auf 3018 Metern, unweit der Ötzi-Fundstelle, sind der höchste Punkt und die unsichtbar gewordene Grenze zu Italien erreicht. Es ist auch der höchste Punkt der Via Alpina, eines europäischen Weitwanderprojekts mit fünf alpenquerenden Routen und 341 Tagesetappen. Als Modell für sanften Bergtourismus wurde es auf einigen seiner attraktivsten Etappen einer internationalen Journalistenschar präsentiert.

Die Schafe und ihre Begleitung haben noch 1300 steile Höhenmeter abwärts nach Vernagt vor sich. Um 14 Uhr ist der 1956 in einem Stausee ersäufte und an dessen Rand teilweise wiedererrichtete Ort erreicht. Die Schafe erwartet neuerlich ein riesiger Pferch - und dazu ein Volksfest. Für die Schafbauern beginnt die mühsame Suche nach den eigenen Tieren. Wer eines gefunden hat, schiebt oder zerrt es in eine der an den großen Pferch angrenzenden kleinen Abteilungen. Von dort geht es entweder mit dem Lkw oder am nächsten Tag zu Fuß zu den Höfen im Schnalstal und im Vinschgau. Inzwischen sind alle Schafe geschoren. Und sofern Schafe träumen, dann wohl von den Weiten des Niedertals. (Hannes Schlosser/ DER STANDARD-Printausgabe, 16./17.9.2006)