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Jan Houtermans spielte mit Bierdeckeln, rollte und drehte sie über den Holztisch vor ihm, legte immer neue Muster. Dabei kam dem Wiener plötzlich eine Idee. Wieso nicht einen total abgefahrenen Drachen bauen, einen nur aus vielen kleinen Rotoren. Houtermans, ein Crack der Drachen-Szene, begann zu experimentieren. In seiner Werkstatt zeichnete, bastelte und klebte er in mehreren Wochen neun sechseckige Facetten, verband die bunten Figuren mit unzähligen Schnüren, und fertig war sein Flieger. Houtermans nannte ihn liebevoll "Drahdiwaberl".

Die Premiere des "Drahdiwaberl" war eine einzige Pleite. Vom Bewegen, geschweige denn vom Abheben konnte in freier Wildbahn keine Rede sein. Die Rotoren, so analysierte der Drachendesigner, zogen sein Flugobjekt nicht nach oben. Es gab zu wenig "Lift", wie Insider das nennen. Dafür umso mehr "Drag", die Kraft, die den Drachen am Boden zappeln ließ. Houtermans gab nicht auf. Der gebürtige Göttinger ersetzte die Schnüre durch kleine Segel. Und siehe da, sechs Monate nach dem Bierdeckelexperiment erhob sich "Drahdiwaberl" in die Lüfte.

Vorbei scheint die Zeit, als Papa aus Holzlatten, Papier und Leim ein einigermaßen gleichseitiges Viereck bastelte, Mami eine gelbe Sonne darauf malte und Töchter und Söhne fröhlich damit über den Acker rannten.

Der Deutsche Lutz Treczoks, wegen seiner reißfesten Knoten in der Szene hochachtungsvoll "8er Lutz" genannt, ist sich sicher, der simple Kinderdrachen ist trotzdem noch in. Obwohl der 48-Jährige in einem Lokschuppen im niedersächsischen Hankensbüttel ständig an neuen, immer effektvolleren Modellen bastelt, weiß er, das Prinzip bleibt immer dasselbe: Symmetrisch sollte der Drachen sein, aus reißfestem Material und "womöglich mit einem langen Schwanz, der den Flug stabil macht", so Treczoks. Wichtig sei die Schnur als Waage. Wo sie befestigt werde, entscheide, "wie schräg der Drachen im Wind steht". Physikalisch gesehen ganz einfach: Der Luftdruck unter dem Flieger muss etwas höher sein als darüber. Doch selbst Meister Treczoks möchte, wenn er mit einem neuen Kastendrachen experimentiert, nicht unbedingt wetten, ob das "Ding fliegt oder nicht".

Erforschung von Blitz und Donner

Historiker sind sich uneins, wann der erste Homemade-Drachen sich Richtung Firmament erhob. Es war in China, so sind sich die Forscher immerhin sicher, etwa im 5. Jahrhundert vor Christus. Die Chinesen bauten sie aus Bambusstäben und Seide, vor allem, damit die Drachen ihre Wünsche und Bitten zu den Göttern tragen. Im 18. Jahrhundert kannten die Kinder in ganz Westeuropa den Drachen als Spielzeug. Wissenschafter versuchten, mithilfe der fliegenden Objekte die Temperaturen in der Höhe zu mes- sen und so wie 1752 der Amerikaner Benjamin Franklin den Geheimnissen von Blitz und Donner auf die Spur zu kommen.

Wer sich anno 2006 auf Feldern und Festen als Kenner ausgeben will, hat mindestens ein Mini-Studium der modernen Drachenklassen vor sich. Die Profis unterscheiden Stand-, wie etwa den klassischen Kinderdrachen, mit nur einer Schnur, und Lenkdrachen mit mehreren Bändeln. Lenkdrachen kommen als Zweileiner, für jede Hand eine, Dreileiner, mit einem Griff, von dem alle Schnüre abgehen, oder Vierleiner, mit zwei Griffen mit jeweils zwei Leinen, auf die Ladentische. Alle Modelle gibt es wiederum mit und ohne Stäben. Die Stablosen, besonders gut für Einsteiger, weil sie Abstürze meist ohne Brüche überstehen, sind die Trendsetter der Saison. Die lenkbaren Schmetterlinge, Seepferdchen oder Saurier reagieren allerdings schon auf die kleinsten Ruckler mit dynamischem Kurs Richtung Erde. Eine imposante 3-Meter-Eule kostet den Fluganfänger allerdings satte 500 Euro.

Die Stabflieger fixieren kleine Latten, "damit es nicht wackelt und der Drachen schneller wird", wie der Kelheimer Fluglehrer Rudi Aumer weiß. Für besonders Ambitionierte empfiehlt Aumer Trickdrachen, die nicht nur nach links oder rechts drehen, sondern wie beim Purzelbaum "auch nach vorne oder hinten". So genannte Power-Drachen sollte der Flugamateur, wenn er nicht den "fliegenden Robert" geben möchte, lieber nur staunend aus der Ferne betrachten. Denn Power-Drachen ziehen mit bis zu 200 Kilogramm in die Lüfte. Ein schweißtreibendes Vergnügen, denn Gewichte, Gurte und Umlenkrollen halten den Steuermann am Boden. "Man hängt quasi am Drachen", so Rudi Aumer.

Statt auf Papier, Stoff und Holz setzen die Künstler heute auf Kohlefaser, Spinnaker-Nylons und Polyester. Der englische Delta-Papst Dan Leigh, der Neuseeländer Peter Lynn oder der Wiener Jan Houtermans, jeder hat seinen eigenen Stil. Der 49-jährige Houtermans experimentiert mit Papier und Bambus, das er ganz praktisch aus zerlegten Sushi-Rollmatten nimmt. Ihr Name: "Sushi-Kites".

"Man läuft prinzipiell nicht"

Ob Kumuluswolken, Föhnmauern oder Hochnebel, schon der Blick aus dem häuslichen Stubenfenster zeigt, ob es sich lohnt, den Drachen herauszuholen. Noch aus der Hochzeit der Landwirte, als der Bauer es sich nicht leisten konnte, sein Feld im Sommer brach liegen zu lassen, stammt der Glaube, allein die Herbstwinde seien der Drachen Meister. Damals rannten Kinder aus Stadt und Land ab Ende September über die dann freien Stoppelfelder. Wetterexperten wissen es besser, auch im Januar, Juli oder Dezember sind die Winde ideal für Drachen- freaks. Wichtig sei ohnehin nur, dass "der Wind für den Drachen von vorn kommt und man selbst den Wind im Rücken habe", so Michael Steltzer vom Berliner Drachenladen. Lachen können die Experten über das Herumgerenne. "Man läuft prinzipiell nicht", so Steltzer. Das Steigenlassen komme "aus der Hand raus".

Im Kampf um den Mega-Super-Drachen kann es schon einmal vorkommen, "dass bei drei verschiedenen Festen jeweils die größten Drachen der Welt am Start sind", wie Jan Houtermans weiß. Im Moment gilt eine kuwaitische Flagge, aufgebläht mit 4500 Kubikmetern Volumen, konstruiert von Peter Lynn, als Weltrekordhalter. Der Neuseeländer vernähte dazu 1050 Quadratmeter Nylon. Auch der Vorgänger kam aus den Lynn-Stuben. Jetzt besitzt ihn der Norddeutsche Lutz Treczoks. 58 Meter ist sein schwarz-rot-blau-gelbes Monster lang, vom Kopf bis zum Schwanz, 42 Meter breit. Es sieht aus wie ein Riesenrochen.

Wenn der überdimensionale Fisch abhebt, steigen 930 Quadratmeter Stoff in die Lüfte. Ein Sechs-Tonnen-Truck hält den Gigantomanen als Bodenanker im Zaum. Mehrere dutzend Leute zerren, ruckeln und reißen derweil an Haupt-, Steuer- und Seitenleinen. Ein kleiner Drachen, der im Maul des fliegenden Mantas versteckt ist, lässt den Wind in seinen Bauch. Der Höhenweltrekord stammt übrigens aus dem Jahre 1919. Im brandenburgischen Lindenberg stieg damals eine Kette aus acht Schirmkastendrachen in die Lüfte und erreichte nach sechs Stunden unglaubliche 9740 Meter.

Die internationale Drachen-Gemeinde ist stets auf der Suche nach dem optimalen Wind-Kick, um ihre Modelle tanzen zu lassen. Gerade im Herbst vergeht fast kein Wochenende, an dem nicht einer der zahlreichen Klubs zum Drachensteigen bittet. Am 14. und 15. Oktober z. B. steigt das Drachenfest in Tulln, und die Mostviertler geben am 28. Oktober in Amstetten das "Halloweenfliegen".

In den Vereinen grübeln die Mitglieder über immer verrücktere Drachen, um diese dann stolz beim nächsten Festival zu präsentieren. Die Österreicher aus Parndorf können einen sechs Meter hohen, 100-zelligen Tetraeder, einen sieben Meter langen aus dreizehn Zellen bestehenden Kastendrachen mit dem gelben Vereinsbalken und einem Fußball als Windspiel vorweisen. (Oliver Zelt/Der Standard/Rondo/13/10/2006)