Aus den lange unzugänglichen Akten der Wiener Finanzlandesdirektion: die Tragödie von Theodor Herzls Tochter Trude Neumann, die im September 1942 ins so genannte "Muster- Getto" Theresienstadt transportiert wurde und dort wenige Wochen später starb. Von Standard-Autor Hubertus Czernin.

Die Historiker im Dokumentationsarchiv des Widerstandes haben in den vergangenen acht Jahren mit enormem Aufwand versucht, die Namen jener österreichischen Juden zu erfassen, die in den Vernichtungslagern des Dritten Reichs ums Leben kamen. Zusätzlich zur Kartei der Israelitischen Kultusgemeinde verfügen sie über Kopien der Transportlisten aus Wien, die sie von der Gedenkstätte Yad Vashem zur Verfügung gestellt erhielten. Sie fanden auch heraus, dass Namenslisten der aus Wien Deportierten sogar veröffentlicht worden waren - im Völkischen Beobachter. Nur von Transportlisten in der Wiener Finanzlandesdirektion wussten sie nichts. Finanz-Dementi Am Freitag reagierte das Finanzministerium auf den Bericht des Standard, wonach mehr als 100.000 einschlägige Akten bis zum heurigen Jahresbeginn ohne Kenntnis der Angehörigen im Archiv der Finanzlandesdirektion in Wien lagerten, mit einem Dementi. "Diese Akten wurden auch niemals als Geheimakten geführt", heißt es in der Aussendung. Und: "Diese Akten wurden bis zur Übergabe an das Staatsarchiv und an die Historikerkommission, also bis etwa vor einem halben Jahr, bei der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland ordnungsgemäß geführt. Dort waren sie auch immer zugänglich und bereits Gegenstand der historischen Forschung." Die Darstellung, wonach wichtiges historisches Informationsmaterial nicht zur Verfügung gestellt worden sei, werde "als unrichtig zurückgewiesen". "Verdreckter Keller" Der Zeithistoriker Oliver Rathkolb, der mit seinem Kollegen Theodor Venus als einer der ersten Fachleute Zugang zu den Beständen bekam, sagte dagegen dem Standard: "Bis zur Genehmigung ist ein halbes bis dreiviertel Jahr vergangen." Rathkolb, der 1998 nach Dokumenten auch für seine PSK-Forschungen suchte: "Wir haben im völlig verdreckten Keller gearbeitet. Leider sind die Unterlagen durch die Übersiedlung ins Staatsarchiv durcheinander geraten. Leider ist für uns danach auch eine Verschlechterung der Situation eingetreten, da nicht, wie mit der Historikerkommission vereinbart, die Kartei auch für andere Benützer verwendbar gemacht wurde." Auf noch ein Faktum verweist der Historiker: In den unmittelbaren Nachkriegsjahren, auf jeden Fall seit 1947, hatte die Kultusgemeinde Zugang "zumindest zu einem Teil der Unterlagen". Ein freier Zugang wie in jedem anderen Archiv sei aber nie gegeben gewesen. Die Akten geben wesentliche Aufschlüsse über die der physischen Auslöschung vorangegangene systematische Enteignung der zum Abtransport Verurteilten. Sie ergänzen damit entscheidend jene der Vermögensverkehrsstelle, die seit Jahren im Archiv der Republik öffentlich zugänglich sind. Unter den Akten der Finanzlandesdirektion befindet sich auch jener von Richard und Trude Neumann. Er unterscheidet sich von vielen anderen, die von der "Zentralstelle für jüdische Auswanderung" über die aus Wien deportierten Juden angelegt wurden. Er besteht nicht nur aus wenigen Blättern, auf denen die Enteignung der letzten Barmittel von Menschen festgehalten ist, nur weil diese gemäß der nationalsozialistischen Rassengesetze Juden waren oder als solche galten, sondern aus mehr als fünfzig an den Rändern oft versengten Seiten. Zielort Theresienstadt Auf dem Deckblatt des Aktes ist Theresienstadt als Zielort der Zwangsverschickung eingetragen, ebenso die Namen und die Geburtsdaten des Ehepaars sowie deren Transportnummern (40/ 965,967). Handschriftlich ist ein Vermerk angefügt: "Keine Liegenschaft". Unterhalb des Deckblatts öffnet sich dann die Geschichte von Richard und Trude Neumann, geschrieben aus der amtlichen Perspektive des Nationalsozialismus und somit ausschließlich auf jene Vermögenswerte konzentriert, die dem Ehepaar bis zum März 1938 gehört hatten. Zum Zeitpunkt der Deportation am 10. September 1942 besaßen Richard und Trude Neumann gerade 156 Reichsmark. Auf einem Konto beim Bankhaus Mayer, Loss & Co in der Rathausstraße lagen 4173 Reichsmark. Auf dieses hatte der 75-Jährige, der seit Mai 1942 in einem Altersheim des Ältestenrates der Juden in Wien gelebt hatte, keinen Zugriff mehr. Längst war es gesperrt. Vier Monate nach der Ankunft im KZ Theresienstadt wurde die Summe auf das bei der Länderbank geführte Sonderkonto "Judenumsiedlung" unter Angabe des Aktenzeichens XL/965,967 überwiesen. Richard Neumann war früher Industrieller gewesen. Er trug einen tschechoslowakischen Pass und hatte bis zum "Anschluss" in der Wiener Bösendorferstraße gewohnt, seit 1934 als Pensionist mit jährlich 8800 Reichsmark Rente. Damals befand sich seine Frau bereits seit drei Jahren freiwillig in stationärer psychiatrischer Behandlung. Trude Neumann war um 26 Jahre jünger als ihr Mann. Sie war die Tochter des ehemaligen Paris-Korrespondenten und Feuilleton- Redakteurs der Neuen Freien Presse, Theodor Herzl, der durch sein 1896 veröffentlichtes Buch "Der Judenstaat: Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage" zum geistigen Vater des Staates Israel wurde. Familientragödie Trude Neumanns Einlieferung in das Privatsanatorium Inzersdorf im September 1931 war eine private Katastrophe vorangegangen. Im Jahr zuvor, am Tag des Begräbnisses ihrer morphiumsüchtigen Schwester Pauline, die in Bordeaux Selbstmord begangen hatte, hatte sich auch ihr Bruder Hans umgebracht. Trude Neumann verbrachte mehrere Jahre im Sanatorium Emil Fries, ehe sie in das von Viktor Zuckerkandl gegründete Sanatorium Purkersdorf verlegt wurde. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gab es für sie keinen Platz mehr im bald "arisierten" Purkersdorfer Areal. Im April 1938 wurde sie in die psychiatrische Anstalt "Am Steinhof" eingewiesen und sogleich entmündigt. Der Wiener Rechtsanwalt Friedrich Hetzer wurde zu ihrem Kurator ernannt. Bereits im Sommer 1938 hatte der Beistand im "Verzeichnis über das Vermögen von Juden" die verlangten Angaben über die Vermögenswerte der Herzl-Tochter gemacht: Wertpapiere (3828 RM); Spareinlagen (216,16 RM); Gegenstände aus edlem Metall, Schmuck und Luxusgegenstände, Kunstgegenstände und Sammlungen (10.073 RM); Edelmetalle, Edelsteine und Perlen (300 RM). Herzls Nachlass Alles, was die in Steinhof Internierte einmal besessen hatte, wurde erfasst, geschätzt und verwertet, auch die Urheberrechte "aus dem Nachlasse des Vaters meiner Kurandin Dr. Theodor Herzl an den ‚Jüdischen Verlag‘ in Berlin", wie Hetzer in einem Schriftsatz festhielt: "Laut Vereinbarung mit dem Verlag sind für jede verkaufte einfache Ausgabe der Tagebücher des Dr. Theodor Herzl RM 0,66, für jedes verkaufte Exemplar der Luxusausgabe RM 0,75 zu bezahlen. Nach der letzten Angabe des Verlages sind noch 365 Stück der einfachen und 270 der Luxusausgabe unverkauft. Der Wert des Urheberrechtes hängt davon ab, ob die restlichen Exemplare noch verkauft werden können, was unter den gegebenen Verhältnissen zweifelhaft ist." Auch Richard Neumann hatte längst seine Vermögenswerte schätzen lassen müssen, die Manschettenknöpfe und Ringe mit Smaragden und Brillanten, die Teppiche, Bilder und Kunstgegenstände in der Wohnung, und alles zusammen der Vermögensverkehrsstelle angegeben. Als er im Mai 1942 im Altersheim des Ältestenrates eine Bleibe fand, war das, was er einmal besessen hatte, weg oder für ihn gesperrt. Kurator Friedrich Hetzer bemühte sich indes um eine Verbesserung der Lage Trude Neumanns in Steinhof. Ende September 1942 schrieb er der Gestapo, ihm sei mitgeteilt worden, dass seinerzeit "die Neumann nur in der Anstaltskleidung und Wäsche" aus Purkersdorf abgeholt worden sei: "Namentlich soll sie nicht im Besitze eines Mantels oder Überkleides sein. Ich wurde daher gebeten, ihr noch einiges von den in meiner Verwahrung befindlichen Kleidern und Wäsche, insbesonders einen Mantel auszufolgen." Doch da war das Ehepaar bereits seit vierzehn Tagen in Theresienstadt. So blieb nur noch eines: Jene in Kisten und Koffern verpackten Fahrnisse zu veräußern, die seit Trude Neumanns Zwangseinlieferung nach Steinhof beim Kurator lagen. Im Dezember 1942 erhielt der Kurator daher den Auftrag der Zentralstelle für jüdische Auswanderung: "Ich teile mit, dass die Jüdin Neumann am 10. September 1942 zur Wohnsitzverlegung nach Theresienstadt veranlasst wurde. Die Vermögenswerte dieser Juden werden zur Deckung der Aufenthaltskosten im Getto verwendet. Ich bitte beim Amtsgericht die Freigabe der Vermögenswerte zu erwirken." Richard Neumann starb am 21. Jänner 1943. Darüber steht aber nichts in den Akten aus der Finanzlandesdirektion. Man erfährt es aus dem 1971 erstmals veröffentlichten "Totenbuch Theresienstadt". Der Historiker Steven Beller schreibt, dass auch Trude Neumann zu Beginn des Jahres 1943 ums Leben kam. Der Einzige, der sich vor dem Zugriff der Nationalsozialisten hatte retten können, war Richard und Trude Neumanns Sohn Stephen Theodor. Dieser, der in Cambridge studiert hatte, beging nur drei Jahre nach der Ermordung seiner Eltern in Washington D.C. Selbstmord. Recherche: Alexandra Caruso/Hubertus Czernin