Andrea Winkler:
"Arme Närrchen"
Selbstgespräche.
€ 16, –/128 Seiten. Droschl, Graz 2006.

Buchcover: Droschl
Es ist Herbst geworden. Die Fräuleinwunder sind in die Jahre gekommen, die Angstblüten der alten Herren über den Sommer verwelkt. Die kleinen Überraschungen der Großverlage wurden in mundgerechten Häppchen serviert, die großen Überraschungen der Kleinverlage gab es sowieso noch nie im Fingerfood-Format. Aber es gibt sie immer wieder.

Das Debüt der 1972 geborenen Andrea Winkler zählt zweifellos dazu. Arme Närrchen. Selbstgespräche heißt der Band, der 19 Prosatexte auf 128 Seiten vereint. Es mag wenig überraschen, dass sich bei einem Buch mit dem Untertitel "Selbstgespräche" eine ganze (Text-) Menge um das so genannte Ich dreht. Aber wie Andrea Winkler dieses Ich auf- und angreift, wie sie es anschaut und ausleuchtet, und wie mannigfaltig sich dieses Ich mit jedem Berührungsversuch einer Form, einer Formbarkeit entzieht, das überrascht dann doch.

So poetisch ist in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur schon lange nicht mehr dekonstruiert worden, so kompromisslos hat sich lange schon niemand mehr aufs Glatteis der Sprache gewagt. Die surrealen Bilderwelten dieser Geschichten sind voll von sonderbaren Figuren und seltsamen Orten. Da wäre etwa der Einbeinige, der einen neunzig Jahre alten Anzug trägt: "Seit er so gut wie auf dem Dach lebt, hat sich alles geändert, grauschwarz gestreifter Stoff flattert im Wind, und der restliche Körper bewegt sich mit, wer genau schaut, sieht ein S in der Luft hängen, wer mag, kann es drehen und wenden und ein Fragezeichen daraus machen. Damit nichts geschieht oder auch alles geschieht, je nachdem."

Jene Literatur, in der viel geschieht, ist in jüngster Zeit höchst erfolgreich gewesen. Jene, in der vordergründig wenig geschieht, hat sich auf dem Ladentisch von jeher schwerer getan. Das darf bedauert werden, aber es ist schon okay. Seinen unbestechlichen Spürsinn für brillante Literatur abseits der kalkulierten Schreibschulenästhetik hat der Droschl-Verlag u. a. mit der Drucklegung von Anna Kims Die Bilderspur (2004) vorgeführt; er setzt diese Beweisführung mit der Veröffentlichung von Andrea Winklers Arme Närrchen eindrucksvoll fort.

Wenngleich in diesen "Selbstgesprächen" jedweder Möglichkeit von (nach-)erzählbarer Handlung radikal entgegengewirkt wird, entfächern diese Reflexionen einen Kosmos, in dessen Brechungen mit der minimalsten Veränderung des Blickwinkels eine existenzielle Bedrohung einhergeht. Erbarmungslos bringt die Winkler’sche Sprache jene Welt zu Fall, die eben noch der Fall zu sein schien. Mit schlafwandlerischer Stilsicherheit bewegen sich die Texte der in Wien lebenden Autorin entlang eines jeden Rands. Das Oxymoron wird dabei zur tragenden Figur: "Sie hat keine Wahrheit zu bieten, nur einen Haufen verkümmerter Wünsche, einen schwarz leuchtenden Zorn, den sie sieht, aber nicht spürt."

Ein anderes, helleres Leuchten nimmt Winklers Prosa, die vordergründig das ganze Gewicht der Welt zu tragen hat, die Schwere, hüllt sie zwischenzeitig in Watte, die den schwarzen Stein schneeflockengleich durch alle Zeiten und Räume schweben lässt. Freilich ist das vermeintlich unverbrüchliche Recht auf eine Wahrheit – geschweige denn auf so etwas wie eine ordnende, innere Instanz, die ein taugliches Ich abgäbe – in diesen Selbst- und Weltbetrachtungen längst verwirkt.

Gewiss, wir haben es auch zuvor schon gewusst: Die Aufklärung war eine Schimäre, die Romantik kein probater Gegenentwurf, und wir Nachgeborenen stehen da, und es bleibt uns am Ende doch wieder nichts anderes übrig, als über Bäume zu sprechen. Die Geschichte mit der Vernunft oder einem souveränen, stabilen Ich hat nie so richtig geklappt. Das von allen Seiten bedrängte und bedrohte Ich steht im Zentrum einer Literatur, deren frühmoderner Sprachskeptizismus erst den Anlaufturm für den Flug jenseits aller Gewissheiten gebaut hat. Auch Andrea Winkler nimmt Anlauf, verleugnet das Ursprungsmilieu ihrer Sprache nicht: "And who shall I say is calling?", lässt sie Leonard Cohen fragen.

So ermüdend die ostentative, bildungselitäre Referenzliteratur zuweilen ist, so erfrischend sind Winklers Montagen und Grundierungen, weil ihre Zugriffe auf Vorhandenes unbefangen, aber ganz und gar nicht beliebig sind. Die Exegeten der Intertextualität können sich schon einmal warm anziehen, alle anderen dürfen es mit Paul Celan halten: "Lesen, Sie müssen einfach nur lesen. Das Verständnis kommt ganz von selbst." In einem Ton, der sich nichts und niemandem anbiedert, der von einer Eigenständigkeit zeugt, die allemal als erstaunlich bezeichnet werden darf, verhandelt die Autorin das, was mit den Mitteln der Poesie verhandelt werden kann oder eben auch nicht. Arme Närrchen ist eine eindringliche Befragung aller scheinbaren Gültigkeiten, ein gnadenloses Kreuzverhör des Ichs. Zwischen das Ich und die Welt hat sich hier ein Etwas geschoben, das jeden Behausungsversuch verunmöglicht: "Immer wollen die Sätze schlafen und zu gar nichts taugen, immer dann, wenn nichts mehr zurückfindet an seinen eigentlichen Ort und ich in fremden Wohnungen den Auftrag vergesse, der mich hergelockt hat."

Die "müden Sätze" der Andrea Winkler sind hellwach, sie locken uns an den Ort ihres Schreibens. Dort ist es ziemlich ungemütlich und verdammt schön! (Josef Bichler/ ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 14./15.10.2006)