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Christoph Ransmayr, "Der fliegende Berg". Roman. 20,50 € / 359 Seiten. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2006.

STANDARD-Rezension
Hoch hinaus: Christoph Ransmayr bläst eine schöne Novelle zum Roman auf

Buchcover: Fischer
Wien – Christoph Ransmayr meldet sich im doppelten Sinne zurück: Mit der Bergsteiger- und Brudergeschichte "Der fliegende Berg" hat der Autor von "Die Schrecken des Eises und der Finsternis", "Die letzte Welt" und "Morbus Kitahara" seinen ersten Roman seit elf Jahren veröffentlicht, gleichzeitig hat er seinen Hauptwohnsitz von Irland wieder nach Österreich verlegt. Entsprechend groß war der Andrang, als Ransmayr vergangene Woche im Burgtheater einige Kapitel aus "Der fliegende Berg" vortrug. Von Irland aus machen sich darin zwei Brüder – einer von ihnen erzählt die Geschichte – nach Osttibet auf, um einen auf der Landkarte noch nicht verzeichneten Gipfel zu besteigen.

STANDARD: Sie haben vor Ihrer Lesung im Burgtheater den Song "Highlands" von Bob Dylan spielen lassen. Gibt es da eine Verbindung zu Ihrem Schreiben?

Ransmayr: Der Song macht auf wunderbare Weise hörbar, wie sehr Erzählung und Stimme zusammengehören können. Natürlich kann man Dylan-Songs auch als literarische Texte lesen, das ist immer noch ein großes Vergnügen und enthält alles, was man sich von Literatur wünschen kann. In dem Augenblick aber, wo Stimme und Erzählung zusammenfallen und er seine Balladen singt, geschieht noch etwas anderes: der Anschluss an eine schriftlose Tradition des Erzählens, an eine Kunst, die weitaus älter ist als jedes Alphabet.

STANDARD: Ihr Roman ist auch einer zum Vorlesen. Die Rezensenten haben sich auf den Flattersatz als Gestaltungsprinzip gestürzt, aber die Sprachmelodie scheint mir für den Text noch wichtiger.

Ransmayr: Darum ist er auch gleichzeitig als Hörbuch erschienen. Flattersatz und Buch sind hier Hilfsmittel und Arbeitsunterlage für den Vortrag. Ich sehe das aber auch als eine Gelegenheit, sich von eingravierten Gewohnheiten zu entfernen. Prosa muss nicht immer im Backblech des Blocksatzes daherkommen. Und nicht alles, was im Flattersatz steht, muss mit Emphase oder Pathos ausgesprochen werden muss. Man kann den Text auch einfach runterleiern. Litaneien flattern schließlich auch – genauso wie Einkaufs- und Ausrüstungslisten.

STANDARD: Apropos Pathos. Der wird Ihren Texten immer wieder angekreidet. Können Sie das nachvollziehen?

Ransmayr: Was jemand als Kitsch oder Pathos empfindet, sagt mehr über ihn aus als über mich. Ärgerlich wird es dann, wenn die Kitsch-Keule im ästhetischen Bereich so undifferenziert geschwungen wird wie auf moralischen Schlachtfeldern die Auschwitz-Keule. Das ist dann stets der letzte Schlag, danach erübrigt sich jedes Gespräch. Ich glaube, man kann generell nur zu einer kleinen Gemeinde, zu einer Familie von Lesern sprechen. Andere Familien nehmen Tonfälle, Rhythmen, Satzkonstruktionen anders wahr. Und manchmal kommt es eben zu Feindseligkeiten zwischen den einzelnen Clans.

STANDARD: Zuletzt erschienen einige Bändchen mit kürzeren Texten wie "Die Verbeugung des Riesen" oder "Geständnisse eines Touristen".

Ransmayr: Das waren Bücher, die jenseits der Wahrnehmungsschwelle einer größeren Öffentlichkeit erschienen sind. Für mich liegt diese – den Spielformen des Erzählens gewidmete – Reihe von kurzen Texten aber auf einer Ebene mit den Romanen. Und es gibt noch weitere Erzählformen, die ich gern vorstellen möchte. Bis hin zu rein mündlichen ..., ein Bändchen wird dann eben nur eine CD enthalten samt einer rechtsverbindlichen Warnung, die jede Transkription verbietet.

STANDARD: Nähern wir uns wieder dem "Fliegenden Berg". Das erste Kapitel des Romans haben Sie schon 1999 bei den Salzburger Festspielen gelesen. Warum hat das Buch so lang gebraucht?

Ransmayr: Das liegt am dramatischen Unterschied zwischen Reden und Schreiben. Eine Geschichte lange im Kopf zu haben heißt ja noch lange nicht, auch zu wissen, wie denn der geschriebene erste oder zweite und alle folgenden Sätze lauten. Da bedarf es einer ganz anderen Konzentration über Monate, manchmal über Jahre hinweg. Und wenn diese Jahre über persönlichen Katastrophen vergehen, findet man nicht die Ruhe, die das Schreiben eines Roman erfordert. Die Zeit ist mit Reisen, mit kleineren und größeren Fluchten vergangen – und eben mit der Arbeit an anderen Textformen, die meinem Zustand eher entsprochen haben.

STANDARD: In Ihrem Roman geraten zwei Brüder in Bergnot. Durch ihre Bindung aneinander spitzt sich der Konflikt doppelt zu. Einer sagt dann auch: "Ich habe meinen Bruder getötet."

Ransmayr: Brudergeschichten haben eine ganz eigene Dramatik. Wie gehen Brüder miteinander um? Was sind sie füreinander, was können sie einander antun? Die Geschichte von Kain und Abel bewegt mich schon seit meiner vorschriftlichen Zeit, als der Pfarrer von Roitham diese Geschichte erzählt hat. Und mein eigenes Leben als Bruder ist mir beim Verstehen von Verwandtschaftsgeschichten und überhaupt von Dramen stets nützlich gewesen.

STANDARD: Der Erzähler im Buch sagt "ich". Wie viel von dieser Bergsteigergeschichte mussten Sie selbst erleben, um das so schreiben zu können?

Ransmayr: Ich glaube, dass man vor allem ein Ohr braucht, zuhören können muss als Erzähler, um eine Vorstellung vom wirklichen Leben zu entwickeln. Dabei muss einer nicht am Everest gewesen zu sein, um zu beschreiben, wie unendlich qualvoll ab einer gewissen Höhe ein einziger Schritt werden kann. Aber man sollte von den Dingen, über die man schreibt, zumindest eine Ahnung haben. Der Anteil der eigenen Erfahrung kann unter Umständen sehr klein sein. Als ich erstmals über arktisches Packeis geschrieben habe, war Kopenhagen mein nördlichster Punkt.

STANDARD: Sie haben zahlreiche Berge erklommen, darunter einige Sechstausender. Wo liegt die Motivation, so hoch zu steigen? Ransmayr: Das ist in jedem Fall eine ziemlich irrationale Angelegenheit. Wer einmal einen Drei- oder Viertausender be-stiegen hat, gerät unter Umständen in eine Dynamik, die ihn immer weiter und höher führen kann, so hoch, bis der nächste Schritt einer ins Leere wäre. Bei mir war allerdings an einem gewissen Punkt Schluss, denn über die Leidensfähigkeit für einen Achttausender verfüge ich nicht. In den höchsten Höhen wird alles lebensgefährlich, selbst das Scheißen. Das verschweigen ja die heroischen Expeditionsgeschichten – wie viele Leute beispielsweise allein dabei sterben. Die Kunst, die wahre Höhenbergsteiger beherrschen, ist die des Umkehrens, bevor alle Kräfte verbraucht sind. (Interview: Sebastian Fasthuber/ DER STANDARD, Printausgabe, 17.10.2006)