Die Verhaftung des Medienmagnaten Wladimir Gusinski - ob auf Befehl Putins oder nicht - hat die Ängste vor Pressezensur und Verletzung der Gedankenfreiheit wieder aufleben lassen. Sind diese Ängste begründet, und wie ist Gusinskis Verhaftung zu deuten?

Weder Zensur noch Gulag vermochten das intellektuelle Leben in der Geschichte Russlands auszuschalten. Genies wie Achmatova, Mandelstam, Schostakowitsch, Pasternak und Prokofjew sind das beste Beispiel dafür: Sie schufen selbst in den Alptraumjahren der Stalin-Ära Meisterwerke. Im Bewusstsein dieser Unzerstörbarkeit haben die russischen Herrscher immer schon die Massenmedien an die Kandare genommen, während sie versuchten, die Künstler auf ihre Seite zu ziehen. Die Medien krümmten sich wie ein Wurm, viele Künstler erwiderten die Umarmung. Puschkin beispielsweise gab bekannt, dass er nicht schmeichle "wenn ich Lobeshymnen auf meinen Zar singe". Selbst Mandelstam schrieb - wenngleich als Verbannter unter Zwang - eine Ode an Stalin, die ihn nicht vor dem Tod rettete.

Lenin, Chruschtschow, Breschnjew, Gorbatschow - sie alle bauten die Macht der Sowjetideologie auf dem Fundament der russischen Intelligenzia auf. Als der Kommunismus implodierte, versuchte Jelzin die intellektuelle Energie des Riesenreichs in Richtung Markt und Medien zu lenken. Die Kunst war nun nicht mehr das Spielzeug des Kreml, und sollte sehen, wie sie selbst durchkam. Das Internet und und die Massenmedien - nicht mehr die Literatur - waren von nun an der Katalysator für Russlands Transformation in eine Zivilgesellschaft.

Im Jänner dieses Jahres versprach Wladimir Putin, er werde als gewählter Präsident das moralische Empfinden der Menschen Russlands wecken, um ihren Ruhm und ihre Achtung in der Welt wiederherzustellen. Zur Umsetzung dieses Vorhabens versucht Putin die Hochkultur wieder in die Position höchster Wichtigkeit im russischen Leben und gleichzeitig die Massenmedien zurück an eine politisch untergeordnete Rolle rücken. Wenn Denker wie Solschenizyn und Sacharow einen Beitrag zur Auflösung der Sowjetunion leisteten, dann, so scheint Putin zu überlegen, können auch andere Künstler und Denker helfen, Russland zu seiner alten Größe zurückführen. Doch Politik war in Russland nie eine Sache von Größe sondern immer eine Frage der Kontrolle. Und da den Medien dabei eine Schlüsselfunktion zukommt, ist es nur logisch, wenn Putin versucht, die Zügel kürzer zu halten.

Insgesamt stellte sich Putin in diesem halben Jahr, das er als agierender und gewählter Präsident absolviert hat, als einen großartigen Förderer der russischen Kultur in allen Facetten dar: Film, Literatur, Musik, Architektur, Wissenschaft. Die Massenmedien, auf Grund ihrer politischen Nützlichkeit, scheinen von dieser zarten Seite wenig zu spüren.

Bei den Menschen in Russland löste die Verhaftung Gusinskis ein dumpfes Gefühl des Déj`a-vu aus. Auch Stalin war der beste Freund sowjetischer Literaten, Athleten, der Kinder und Soldaten, vor allem aber war er ein Freund der Dichter und Musiker, selbst als er die Medien mit eisernem Griff umklammerte.

Stalins Freundschaft bedeutete für Mandelstam das Grab, für Pasternak, Schostakowitsch und Bulgakow die Isolation. Nachdem er in dem von ihm bevorzugten Moskauer Theater (MkhAT) die Verfilmung von Bulgakows Roman Weiße Garde gesehen hatte, rief Jossif Wissarjonowitsch den Schriftsteller voll Begeisterung immer wieder an: Michail Afanasjewitsch, hier spricht Stalin. Die Stimme löste bei Bulgakow Angst und Schrecken aus. Zu Schostakowitsch sagte Stalin, er solle Lieder statt Symphonien komponieren, vor allem Filmmusik. "Man darf die ideologische Wirkung des Films auf 120 Millionen Zuseher nicht unterschätzen", erklärte er.


Erstaunliches Feingefühl

In Wladimir Putins neuer "Diktatur des Gesetzes" ist auch die Kultur seines Law and-order-Vorgängers eine wichtige Karte. Glücklicherweise haben die kulturellen Ambitionen Putins bisher nur bescheidene Formen angenommen. Immerhin wurde Gusinski vor laufender TV-Kamera verhaftet und nicht spät Nachts in den Gulag befördert. Dieses erstaunliche Feingefühl ist möglicherweise das Resultat demokratisch/ kapitalistischen Herrschens, mit neuen Kontrollmechanismen, um die sowjetische Zensur abzulösen. Putins Staat hält Verleger in Schach, Publizisten und Theaterdirektoren, indem er Lizenzgebühren und Steuern erhöht und sich nicht scheut, ungeliebte Magazine, Theater und Filmunternehmen zu schließen, unter dem Vorwand, die sanitären Auflagen und Sicherheitsvorschriften würden nicht erfüllt.

Im Grunde geht es darum, zu atomisieren und isolieren. Wichtige Stimmen werden nur als einsame Rufer in der Wüste geduldet; der Chor der Massenmedien, so scheint es, steht unter Beobachtung, wer zu weit von der Kremllinie abweicht, wie das einige Makler der Macht zu glauben scheinen, wird kontrolliert. Gusinskis Media-Most, zu dem Fernsehstationen, einflussreiche Tageszeitungen und Wochenzeitschriften gehören, haben den Kreml schon mehrmals gestört, Gusinkis Verhaftung war ein Zeichen dafür, dass die alte Peitsche griffbereit in der Ecke steht.

Andererseits werden Putins wohlwollende Gesten gegenüber den Vertretern des Kulturbetriebs - ein Wohlwollen, das in früheren Zeiten das Leben kosten konnte - selbstgefällig entgegengenommen. So war Valery Gergiev, der große Dirigent des Kirow-Orchesters, vom Interesse des Präsidenten an seiner Einstudierung von Prokofjews Krieg und Frieden äußerst angetan. Ähnlich verhielt sich die legendäre georgische Sängerin Nani Bregvads, die der Präsident geradezu anflehte speziell für ihn zu singen, da er ihr Konzert am Moskauer Konservatorium verpasst hatte.


Die Pflicht, einen Beitrag zu leisten

Indem er die Großen der Kunst anders behandelt als die Medienbarone, scheint Putins Rechnung - bis jetzt - aufzugehen. Jüngst haben einige Intellektuelle - unter ihnen Nikita Michalkow, Regisseur des Oscar-gekrönten Films Die Sonne, die uns täuscht, Nikolai Petrow, Pianist und Leiter der russischen Musikakademie sowie der Sänger und Komponist Alexander Gradski - Putins Tschetschenien-Politik öffentlich verteidigt. "Wenn die Nation ihre Kräfte mobilisiert, um eine bestimmte Aufgaben zu erfüllen, hat jeder die Pflicht, auch die Medien, einen Beitrag zu leisten", hieß es in einer schriftlichen Erklärung. Stalin lässt grüßen.

Wladimir Gusinski könnte der erste sein, der die Grenzen der Freiheit und die Härte der Pflichten am eigenen Leib zu spüren bekommt.

Nina Chruschtschowa ist Direktorin am Ost-West-Institut in Moskau.
© Project Syndicate, Prag 2000