Die Krankengeschichte des "Rattenmanns", an der Sigmund Freud seine Vorstellungen über Zwangsneurosen ausgearbeitet hatte, war Thema der vierten Wiener "Freud-Vorlesung". Und führte zu einer Interpretation der jüngsten Aussagen des Papstes zum Islam.

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Wien - Ein junger Mann erfährt während einer Militärübung zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der "Rattenstrafe": Zwei Ratten werden in Panik versetzt, fressen sich durch den After in das Folteropfer. Als der junge Mann einem Offizier Geld zurückgeben muss, stellt sich plötzlich die Fantasie ein, sein Vater würde die "Rattenstrafe" erleiden, bezahle er seine Schuld nicht. Worauf ein Zwangssystem in Gang kommt, das den Mann tagelang in Atem hält.

Mit seiner Fantasie hat der junge Mann Psychoanalyse-Geschichte geschrieben. Denn der "Rattenmann" gilt als eine der großen Krankengeschichten, an der Sigmund Freud seine Vorstellungen von Zwangsneurose ausgearbeitet hat - das Thema der vierten vom Standard mitveranstalteten Wiener Freud-Vorlesung.

Ernst Lanzer, wie der junge Mann hieß, hatte Freud im Oktober 1907 aufgesucht, weil ihm seine Zwangswelten zu viel geworden waren. Freud ging daraufhin, wie die Wiener Psychoanalytikerin Dorothea Nosiska darstellte, auf Spurensuche, wurde bald fündig: Er traf auf einen kleinen Buben, dem der Vater die Masturbation untersagt und ihn deswegen sogar gestraft hatte, und der deshalb nicht nur Liebes-, sondern auch Hassobjekt des Ernst Lanzer wurde.

Der infantile, sadistische Hass blieb jedoch unbewusst, weshalb die Todeswünsche, die der Bub in Bezug auf seinen Vater hatte, nur verschleiert zum Ausdruck kamen. Etwa dann, wenn der Wunsch aufkam, seine Schwestern nackt zu sehen: Automatisch wurde dieser von der Vorstellung begleitet, dass sein Vater sterben würde, wenn es wirklich dazu käme. Der Hass war als Affekt verschwunden, nur eine leere, grundlose Befürchtung war übrig geblieben.

So erahnte Freud, weshalb dem Vater bei Nicht-Rückerstattung der Schuld des Sohnes die "Rattenstrafe" droht: in den After eindringende Ratten - eine homosexuelle (Liebes-) wie auch sadistische (Hass-) Fantasie. Und Freud begriff den Mechanismus hinter dem Zwangsgeschehen: Es kommt zu einer "Affekt-Entziehung" oder -Abspaltung, die beim Betroffenen Unsicherheit und Zweifel hinterlässt. Da wirklicher emotionaler Antrieb und Anliegen nicht mehr offensichtlich sind, setzt ein orientierungsloses Grübeln ein. Begleitet von leidenschaftlichem Praktizieren von Ritualen, die vor allem dazu dienen, das Abgespaltene und Verdrängte (den sadistischen Hass) verborgen zu lassen. Indem sie in ihrer Starre jedes Auftauchen von Emotionen unterbinden.

Zwang und Religion

Der "Rattenmann" ist nicht nur für Zwangsneurosen relevant. Freud nahm den Fall zum Anlass, erneut über Religion nachzudenken, in der Rituale auch eine fundamentale Rolle spielen. Freud sah zwischen beiden Feldern einen Konnex: Die Zwangsneurose sei das "pathologische Gegenstück zur Religionsbildung", die Neurose sei "eine individuelle, die Religion eine universelle Zwangsneurose".

Auch in religiösen Ritualen gehe es, wie der Vorsitzende des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse, Walter Parth, ausführte, um eine Affekt-Entziehung, wobei im Fall der Religion speziell die sexuelle Neugier von selbiger betroffen sei. Das Egoistische, Destruktive, Asoziale, das mit der Neugier und dem Schautrieb einhergehe, aber auch erneut der sadistische Hass soll in Ritualen, die das genaue Gegenteil beschwören, verdrängt gehalten werden.

Das Destruktive und Sadistische von Religionen zeige sich auch dann, wenn sich die Anhänger der einen Glaubensrichtung über die Rituale der anderen lustig machten. Vor diesem Hintergrund seien vielleicht auch die unlängst gefallenen Äußerungen von Papst Benedikt XVI. zu verstehen, in denen er es laut Parth "notwendig fand, einen Kaiser zu zitieren, der behauptet, von Mohammed sei nur Schlechtes gekommen" - es sei deshalb "die Frage zu stellen, ob hier die unfehlbare Zielgenauigkeit des Heiligen Vaters ähnlich dem Durchbruch einer analsadistischen Triebregung, etwas getroffen hat, das die muslimische Welt ihrerseits wieder als Demütigung empfindet und mit großer Bereitwilligung aufnehmen konnte, und als gequältes Gegenüber eine Gelegenheit fand, in der Verletztheit ihrer religiösen Gefühle moralische Satisfaktion zu erlangen".

Womit weder Papst noch Islam einer psychoanalytischen Lächerlichkeit preisgegeben sein sollen: Vielmehr wollte Parth damit sagen, dass Mechanismen, die beim "Rattenmann" die Persönlichkeit bestimmt hatten, abgeschwächt zur Normalität des Lebens gehörten - und dass ein "Rattenmann" in jedem stecke. (Christian Eigner, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.10.2006)